Neuzugänge der Berliner Weber-Sammlung 2023

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Im Juni 1992, quasi zeitgleich mit den ersten „Gehversuchen“ der Berliner Arbeitsstelle der neu begründeten Weber-Gesamtausgabe, erwarb die Berliner Staatsbibliothek den Nachlass des Musikwissenschaftlers und Publizisten Hans Schnoor (D-B, Mus. Nachl. Schnoor). Dieser Bestand beleuchtet im wesentlichen die Forschungsarbeiten Schnoors zu Weber (u. a. Korrespondenz zu diesem Thema, Manuskripte von Publikationen, Fotokopien, Zeitungsausschnitte etc.); die Erschließung des Materials übernahm seinerzeit Eveline Bartlitz. Nun, im Vorfeld der Neuedition von Webers Oper Peter Schmoll, tauchten bei Internetrecherchen Teile dieses Nachlasses auf, die 1992 nicht den Weg nach Berlin gefunden hatten: Aufführungsmaterial zur genannten Oper in einer Fassung, an der Schnoor mitgewirkt hatte. Sie wurden vom Stuttgarter Antiquariat J. Voerster offeriert. Im Sinne der Zusammenführung der Nachlassbestände erklärte sich die Leiterin der Musikabteilung Dr. Martina Rebmann sofort zu einem Ankauf bereit. Zur Bearbeitung des neuen Nachlassteils (D-B, 55 Nachl 134) musste freilich zunächst geklärt werden, um welche Fassung der Oper es sich handelte. Daher sei an dieser Stelle ein kurzer Rekurs zur Aufführungs- und Bearbeitungsgeschichte dieser frühen Weber-Oper gestattet:

Im 19. Jahrhundert nach der in Augsburg anzunehmenden Uraufführung 1803 (vgl. Rätsel um die Uraufführung des Peter Schmoll) vermutlich nie wieder in Gänze gespielt, erlebte das Werk, dessen Dialoge nach wie vor als verschollen gelten, erst nach seiner Drucklegung 1926 (Bd. 1 der Alten Weber-Gesamtausgabe) eine kleine „Renaissance“. Zwischen 1927 und 1963 entstanden – soweit bekannt – sechs Neufassungen, die das Problem der verlorenen Dialogtexte jeweils unterschiedlich lösten, dabei aber immer in die Partitur eingriffen, indem sie die Reihenfolge der Musiknummern umstellten, einige auch ganz strichen. An drei dieser Bearbeitungen war Schnoor beteiligt. Die erste Neufassung der Oper in fünf Bildern mit Dialogen in Versform hatte der Lübecker Opernregisseur Karl Eggert erarbeitet (Premiere Stadttheater Lübeck 18. November 1927); diese Version scheint allerdings keine weitere Verbreitung gefunden zu haben. 1941 trat erstmals Schnoor auf den Plan: Für eine Opernmatinee von Studierenden des Dresdner Konservatoriums am 29. Juni 1941 im Staatlichen Schauspielhaus unter der musikalischen Leitung von Kurt Striegler, in der u. a. Bruchstücke aus Peter Schmoll gegeben wurden, schuf er einen verbindenden Erzählertext. Der Eindruck war immerhin so positiv, dass sich Striegler entschloss, den Schmoll auch mit Ensemblemitgliedern der Sächsischen Staatsoper einzustudieren, die das Werk zunächst im Stadttheater Freiberg (18./19. Mai 1943) und schließlich in Dresden selbst (ab 19. Februar 1944) aufführten. Dafür taugte freilich der Erzähltext Schnoors nicht; statt dessen schuf Hans Hasse eine neue Textbearbeitung für die Bühne mit Prosa-Dialogen. Die musikalische Einrichtung besorgte Schnoor, der einen gedruckten Klavierauszug (Exemplar in D-B, DMS. O. 103393) und maschinenschriftlich vervielfältigte Libretti herausgab. Nach dem Krieg entstand zunächst eine erneute gekürzte Version mit erklärenden und verbindenden Texten eines bislang unbekannten Autors für eine Rundfunksendung von Radio Salzburg (25. Dezember 1954) unter der musikalischen Leitung von Ernst Märzendorfer. Etwa zeitgleich bemühte sich Schnoor in Bielefeld um eine erneute szenische Wiederbelebung, für die nochmals eine neue Einrichtung erarbeitet wurde, nun allerdings mit Secco-Rezitativen anstelle der gesprochenen Dialoge. Neben Schnoor (musikalische Einrichtung) wirkten Ottokar Panning (Textbearbeitung und Regie) und Wolfgang Kuhfuß (Komposition der Rezitative und musikalische Leitung) an dieser Version (Premiere Bielefeld 28. Mai 1955) mit, zu der sich im 1992 erworbenen Schnoor-Nachlass bereits einiges Material (Libretto, Korrespondenz im Umfeld der Einstudierung) fand, allerdings keine musikalischen Quellen. Am einflussreichsten wurde die Fassung von Willy Werner Göttig (Text) und Meinhard von Zallinger (Musik), die erneut Prosa-Dialoge als Bindeglieder zwischen den Musiknummern favorisierte. Zu dieser Fassung erschienen 1963 bei Peters sowohl Klavierauszug als auch Textbuch (in D-B als N. Mus. O. 4922 bzw. Mus. T 1218); der Premiere im Schlosstheater Schwetzingen (19. September 1964) folgten mehrere Einstudierungen, und auch die beiden CD-Einspielungen der Oper (1993 unter Gerhard Markson und 2019 unter Roberto Paternostro) beruhen auf dieser letzten Version.

Bei der Sichtung der Neuerwerbung ergab sich kein einheitliches Bild, vielmehr schienen dort Materialien der Version von 1943/44 mit solchen von 1955 vermischt. Eine kurze Übersicht soll diese beiden Aufführungsbearbeitungen im Vergleich zu Webers Original vorstellen [die Nummern in eckigen Klammern entsprechen der Zählung in Webers Autograph]:

Weber Hasse / Schnoor 1943/44 Panning / Schnoor / Kuhfuss 1955
Ouvertüre (aus WeV C.3) Ouvertüre Ouvertüre (Konzertfassung WeV M.4)
1 Terzett Minette, P. Schmoll, Bast Terzett Minette, P. Schmoll, Bast [1] Terzett Minette, P. Schmoll, Bast [1]
Dialog Rezitativ
2 Terzett Minette, P. Schmoll, Bast Romanze Minette [3] Romanze Minette [3]
Dialog Rezitativ
3 Romanze Minette Arie Bast [18] Arie Bast [18]
[danach Verwandlung] Ouvertüre ab Tempo Imo (Tanz und Melodram)
4 Arie Karl Arie Karl [4] Arie Karl [4]
Dialog Rezitativ
5 Arietta Bast Duett Minette, Karl [aus der gekürzten Arie 8 umgearbeitet] [nur im Libretto; im Klavierauszug keine Nr. 5] Duett Minette, Karl [9]
Dialog Rezitativ inkl. Ouvertüre ab Tempo Imo (mit Melodram)
Ende Akt I
Rezitativ
6 Terzett Minette, Niklas, Bast Terzett Minette, Niklas, Bast [6] Terzett Minette, Jettchen (= Niklas), Bast [6]
Dialog Rezitativ
7 Arie Bast Arie Bast [7] Arie Bast [7]
Dialog Rezitativ
8 Rez./Arie Karl Terzett Minette, Karl, Bast [= Chor 11]
Ende Akt I
Terzett Bast, Karl, Minette [= Chor 11]
Dialog Rezitativ
9 Duett Minette, Karl Duett Minette, Karl [9]
Dialog
10 Duett Minette, Bast Duett Minette, Bast [10] [nur im Libretto; im KlA keine Nr. 10]
Dialog
11 Chor [Terzett] Minette, Karl, Bast
Ende Akt I
Arietta Bast [16] Arietta Bast [16]
Dialog Rezitativ
12 Arie Minette Arie Minette [12] Arie Minette [12]
Rezitativ
[gezählt als Nr. 17!]
Duett Minette, Karl [19]
13 Arie P. Schmoll Arie P. Schmoll [13] Arie P. Schmoll [13]
Dialog Rezitativ
14 Terzett Minette, Karl, Greis Terzett Minette, P. Schmoll, Bast [2] Terzett Minette, P. Schmoll, Bast [2]
Dialog Rezitativ
15 Arie Greis Arie Fremder [15] Arie Fremder [15]
Dialog Rezitativ
16 Arietta Bast Terzett Minette, Karl, Fremder [14] Terzett Minette, Karl, Fremder [14]
Dialog Rezitativ
17 Quartett Minette, Karl, P. Schmoll, Bast Duett Minette, Karl [19]
[danach Verwandlung]
Dialog
18 Arie Bast Arietta Bast [5] Arietta Bast [5]
Dialog Rezitativ
19 Duett Minette, Karl Quartett Minette, Karl, P. Schmoll, Bast [17] Quartett Minette, Karl, P. Schmoll, Bast [17]
Dialog Rezitativ
20 Finale Finale [20] Finale [20]

Das Aufführungsmaterial setzt sich aus folgenden Einzelbestandteilen zusammen: Die fünf kompletten Klavierauszüge (Fotokopien nach handschriftlichen Vorlagen, in Teilen deckungsgleich mit dem gedruckten Auszug von 1944) enthalten die Fassung von 1943/44, in einem der Exemplare (Nr. 3) ist der Dialogtext handschriftlich nachgetragen (im wesentlichen identisch mit dem etwa zeitgleich erschienenen Textdruck). Auf den Exemplaren 4 und 5 sind Namen von Dresdner Mitwirkenden vermerkt (Elfriede Weidlich, die Interpretin der Minette, und Heinrich Pflanzl, der Sänger des Hans Bast), auf dem fünften Exemplar sind zudem Aufführungsdaten festgehalten: in Freiberg am 18./19.5.1943, in Dresden am 19.2., 9.3, 30.3., 3.4. und 17.5.1944. Allerdings finden sich in den Auszügen mehrere Überarbeitungsschichten (Eintragungen, Korrekturen, Heftungen, Verklebungen), die nicht in jedem Fall genau zu datieren sind, einige darunter gehören ins Jahr 1955 (beispielsweise wurden in zwei Auszüge die späteren Rezitative eingelegt). Die Orchesterstimmen entsprechen in der Abfolge der Nummern hingegen eindeutig der Version von 1955; nur die eigenartige Abfolge der Nummern-Zählung (1, 2, 3, 4, 9, 6, 7, 8, 11, 12, 17, 13, 14, 15, 16, 18, 19, 20) korrespondiert mit der Zählung in der älteren Fassung von 1943/44. Alle Textmaterialien gehören zur späteren Fassung von 1955, darunter ein maschinenschriftliches Exemplar der Texte der Gesangsnummern mit Angaben zur Bielefelder Sängerbesetzung (Peter Schmoll: Walther Habernicht, Minette: Wilma Bunte, Hans Bast: Richard Capellmann, Karl: Georg Paskuda, Jettchen: Gertrud Seydewitz, Fremder: Hans Friedrich Meyer). Dass die Secco-Rezitative (für Singstimmen und Klavier, überliefert in mehreren Exemplaren: für das Gesangsensemble, den Korrepetitor etc.) nur der 1955er Version angehören können, versteht sich von selbst. Eine Dirigierpartitur fehlt, allerdings existiert ein handschriftlicher Zettel von Schnoor zur Abfolge der musikalischen Teile: Zu den Musiknummern sind Seitenverweise auf die Schmoll-Partitur in Bd. 1 der Alten Gesamtausgabe von 1926 eingetragen, zu den Rezitativen Verweise auf die Rezitativ-Exemplare des Aufführungsmaterials; möglicherweise diente diese (oder eine vergleichbare) Liste dem Dirigenten zur Orientierung, der demzufolge aus der Gesamtausgaben-Partitur dirigiert haben dürfte.

Die eigenartige Mischform des Materials erklärt sich beim Blick in einen von Hans Schnoor im Mai 1955 verfassten Text („Einige Daten zur Bielefelder Aufführung am 28. Mai“; D-B, Mus. Nachl. Schnoor, in Ordner 18), in dem er die Vorbereitungen der Einstudierung schildert; demnach hatte der Bielefelder Intendant Herbert Decker 1954 in Dresden nach dem Aufführungsmaterial von 1943/44 angefragt, das zwar Eigentum Schnoors war, sich aber nach wie vor im Dresdner Opernarchiv befand (vgl. Schnoors Brief an Fritz Oeser vom 30. Oktober 1954; ebd., in Ordner 18). Bei einer Überprüfung ergab sich, dass „bei der Dresdner Bombenkatastrophe [13./14. Februar 1945] das Material doch weit mehr gelitten hatte […]. So konnten von acht Klavierauszügen nur mühsam drei gebrauchsfähige Auszüge zur Verfügung gestellt werden; die kleineren Partieen mussten sich mit ‚Einzelnummern‘ begnügen. Das Orchestermaterial erwies sich insgesamt als unbenutzbar. Die Dresdner Katastrophe hatte ausser 250 neuangefertigten Klavierauszügen […] auch sämtliche Textbücher vernichtet.“ Somit erklärt sich, wie die Dresdner Klavierauszüge nach Bielefeld kamen, wogegen alle Orchesterstimmen neu angefertigt werden mussten. Die Wasserschäden in einigen Klavierauszügen, durch die die Fotokopien teils miteinander verklebt sind, sind kriegsbedingt: Sie entstanden angeblich durch einen Wassereinbruch in den Keller der Sächsischen Staatsoper (lt. dem erwähnten Brief an Oeser). Aus dem Material lässt sich somit die Aufführungsfassung des Schmoll von 1955 weitgehend rekonstruieren; gleichzeitig enthalten die Klavierauszüge aber auch Hinweise auf Umarbeitungen während der Einstudierung 1943/44.

Neben dieser aufführungsgeschichtlich interessanten, umfangreichen Nachlassergänzung konnten zudem erneut zwei kurze Weber-Briefe angekauft werden. Sie gehörten bis 2020 zu den Lagerbeständen des Musikantiquariats Hans Schneider in Tutzing und wurden nach dessen Auflösung dank der Vermittlung durch Jürgen Fischer von den Erben des 2017 verstorbenen Antiquars der Staatsbibliothek zu günstigen Konditionen zum Kauf angeboten: Es handelt sich um ein kurzes Schreiben Webers an seinen Verleger A. M. Schlesinger vom 28. November 1822 in Zusammenhang mit den Zahlungen für das Euryanthe-Libretto an Helmina von Chézy (vgl. dazu auch den ThemenkommentarT) sowie um einen Brief an einen unbekannten „Sir“ vom 22. Mai 1826, also entstanden kurz vor Webers Tod. Bei letztgenanntem Schreiben handelt es sich um eins von bislang sechs bekannten Exemplaren eines Serienbriefs, mit dem Weber den Beteiligten an seinem bevorstehenden Londoner Konzert am 26. Mai 1826 in den Argyll Rooms dankte. Alle diese Exemplare stammen von unbekannter Hand, Weber ergänzte lediglich Datum und Unterschrift. Der Adressat ist unter den Künstlern zu vermuten, die nachweislich an Webers Konzert mitwirkten, darunter die Sänger Henry Phillips und Lewis Sapio sowie die Geiger Christoph Kiesewetter, Franz Cramer und Nicolas Mori.

Auch in diesem Jahr ist der Berliner Weber-Bestand also um interessante Neuzugänge bereichert worden; allen Beteiligten ‒ den Vorbesitzern bzw. Vermittlern und den mit den Ankäufen befassten Mitarbeitern der Musikabteilung ‒ sei ein herzliches Wort des Dankes gesagt.

Frank Ziegler, Freitag, 21. Juli 2023

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