Aufführungsbesprechung Dresden, Hoftheater: „Simson“ von D. Blumenhagen, Musik von Ludwig Tietz am 1. Mai 1819 (Teil 1 von 3)

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Sonnabends, am 1. Mai. *) Zum Erstenmale: Simson, dramatisches Heldengedicht in 5 Akten, von D[oktor]. Blumenhagen. Musik vom Concertmeister Tiez.

Unsre Bühnen werden bald ein eignes alttestamentarisches Repertoir aufzählen können. Seit berühmte Theologen selbst über die hebräische Mythologie Bücher herausgegeben haben, mußte es freilich auch dramatischen Dichtern frei stehn, hebräische Mythen zu dramatisiren. So stünde der Zirkel vollendet da, indem ja alle moderne Bühnenkunst von heiligen Comödien, Mysterien und autos sagramentales ausging. Doch waltet im Innern eine große Verschiedenheit. Einst glaubte man. Jetzt wird gefabelt. Um nun gleich beim Simson stehen zu bleiben, so war dieser hebräische Herkules eine stehende Figur in allen biblischen Processionen, wo der durch Löwenhaut auf dem Rücken und Eselskinnbacken in der Hand zur Gnüge characterisirt wurde. Als Milton seinen Samson Agonistes mit tragischen Chören als ein geregeltes Trauerspiel dichtete, hatte er, wie die englischen Literatoren zeigen, Dutzende von alten Stücken der Art vor Augen. Aber Milton und alle seine Vorgänger vernünftelten nicht über die berühmte Haarschur. In der Haarlocke des Nasiväers, des dem Herrn gelobten, lag seine Kraft. Als Delila ihm diese abgeschnitten hatte, war auch seine Kraft von ihm gewichen. Sie wachsen ihm wieder und er stürzt Tempel ein. Nicht also die moderne Bearbeitung. Blumenhagen läßt freilich auch die Peripetie seines dramatisirten Heldenspiels(?) auf jener Haarabschneidung beruhen. Aber Simson glaubt selbst nicht an die seinem Haarwuchs, den nie ein Scheermesser berührte, verliehene Wunderkraft. Er hat bloß seiner Delila Neugier damit zum Besten. Der Glaube an Jehova ist das Fundament seiner Riesenstärke. Als nach der Haarschur der Verrath: Philister über Dir! ruft, entsetzt er sich über den Anblick seiner Feinde und der Verrätherei dermaßen, daß er entmannt niedersinkt und wie ein Schlachtthier in Banden fortgeführt wird. Der Monolog des Eingekerkerten im fünften Akte soll nun dieß alles ins Gleiche bringen. Aber es geht hier das alte Horazische Wort in Erfüllung:

Was du mir so vorführst, oh hinweg, ungläubig veracht’ ich’s.

Es thut uns aufrichtig leid, daß durch diese Nachgiebigkeit gegen die moderne Wunderscheu der von uns sehr hochgeachtete Dichter, der sich’s warlich dabei sehr sauer werden ließ, das Stück mehrmals umgestaltete und ihm viele unverkennbare Schönheit im Einzelnen verlieh, dem Stoff das wahre Poetische raubte und, weil ein Mißgriff stets meh¦rere erzeugt, nun dem Ganzen eine so moderne, sentimentale Farbe anhauchte, daß es eher alles andere, als ein wahres Heldenspiel genannt werden mag. Schillers Johanna, von der sich auch sonst viele Reminiscenzen nachweisen lassen, hat ihn irre geführt. Statt ihn zu zerstören, hätte er den Mythos von der dem geweihten Haare inwohnenden Kraft, wäre er nicht schon in der heiligen Urkunde vorhanden gewesen, sogar erfinden müssen. Aber, so mag man fragen, angenommen, der Dichter hätte die alte Wundersage buchstäblich befolgt, wie war es dann möglich, daß die im vierten Akte geschorenen Haare, im fünften, wo der Tempelsturz erfolgt, schon wieder gewachsen waren? Wir antworten: das ist des Dichters Sache, der doch übrigens auch mit der Einheit des Orts und der Zeit sehr willkührlich umspringt. Oder wäre das vielleicht gar ein Wink geworden, daß der ganze Stoff in solcher Behandlung gar nicht dramatisch sey? In Milton’s Simson befindet sich der geblendete Heros, wie dort Oedipus auf Kolonos, gleich beim Anfange in der Erfüllung seines Jammers. Er sitzt im Kerker. Tröstende und spottende Gestalten gehen an ihm vorüber. Da ergreift ihn neue Gotteskraft. Er opfert sich und wird so, wie die typische Theologie es ausspricht, sogar ein Vorbild des Heiligsten. Wir können uns wirklich ohne übermäßige Antrengung der Fantasie ein vollkommnes fünfaktiges Trauerspiel, das auch, weil ja nun einmal alle Lust von den Ohren zu den Augen herabgesunken ist, mit einem Triumph der Decorations- und Maschinistenkunst, mit dem allzerschmetter[n]den Tempelsturz vor unsern Augen enden soll, nach jenen in Milton gezogenen Außenlinien denken. Dann werden freilich aber die bei aller Verschleierung höchst zweideutigen Scenen mit der zur Prinzessin veredelten Buhlerin in Gaza, dann die Lächerliches mit Abscheu gattende Scene der Erdrosselung des Talamai, dann vieles andere, was zur Ausfüllung und Motivirung unerläßlich schien, wegfallen müssen. Wir konnten uns übrigens nicht enthalten, bei der Aufführung selbst an jene komischen Travestirungen und Satyr-Dramen der griechischen Bühne zu denken, wo der griechische Simson im Dienst der Omphale spinnt. Zu so etwas möchte dies Thema allerdings auch Stoff darbieten. – Uebrigens ist es eine von mehrern wahrhaft theilnehmenden Zuschauern ausgesprochene Bemerkung, daß es dem an interessanten Situationen und kunstreichen Motivirungen gar nicht fehlenden Stücke den größten Nachtheil bringt, daß man sich, etwa die Mutter des Simson ausgenommen, eben so wenig durch den vorgeblichen Helden des Stücks, als durch irgend sonst eine Person des Stücks wahrhaft angezogen fühlen kann. War’s Wunder, daß trotz aller rühmlichst gemachten Anstrengungen die doppelte Vorstellung, den Tempelsturz und die Wahnsinnsscene der Delila ausgenommen, wo die unübertroffene Kunst der Schauspielerin sich rauschenden Beifall erzwang, doch nur eine laue Aufnahme bei unserm wirklich gebildeten Publikum fand!

(Die Fortsetzung folgt.)

[Originale Fußnoten]

  • *) Ueber die Darstellungen vom 19. bis 30. April werden die Beurtheilungen nächstens folgen.
    Die Redact.

Apparat

Zusammenfassung

Aufführungsbesprechung Dresden, Hoftheater: „Simson“ von Wilhelm Blumenhagen, Musik von Ludwig Tietz (Teil 1 von 3). Die letzten beiden Teile folgen in den nächsten Ausgaben.

Entstehung

Verantwortlichkeiten

Übertragung
Fukerider, Andreas

Überlieferung

  • Textzeuge: Abend-Zeitung, Jg. 3, Nr. 107 (5. Mai 1819), Bl. 2v

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