Dramatisch-musikalische Notizen (Prag): „Athalia“ von Johann Nepomuk Poißl
Dramatisch-musikalische Notizen,
von Karl Maria v. Weber, Direktor der Oper am k. landständischen Theater zu Prag.
(Fortsetzung.)
HeuteΔ den 21. May erscheint zum Erstenmal auf unsrer Bühne*, Athalia, eine große Oper in 3 Akten von G. Wohlbrück, mit Musik vomΔ Freyh. v Poißl in München. Ein kräftig schöner Zweig teutschen Kunst-Vermögens blüht in dem ausgezeichneten Talent des B. Poißl, und es gereicht mir zur großen Freude, das verehrte Publikum auf eines seiner gelungensten Werke aufmerksam machen zu können, nachdem ein großer Theil Teutschlands seine WerkeΔ schon mit großem Wohlgefallen, ja meistens mit Enthusiasmus aufgenommen hat. Hr. Baron von Poißl, k. bayer. Kammerherr und des St. Georgen-Ordens Ritter hat sich gänzlich der Kunst geweihtΔ, und ihr seit ungefährΔ 10 Jahren allen Zeit- und Kraft-Aufwand gewidmetΔ, deren es bedarf, um eine bedeutende Stufe zu erreichen. Eigenes Studium und Freundesrath des trefflichen Kapellmeisters Danzi waren seine zweckdienstlichsten Hülfsmittel. Nachdem er schon mehrere Werke der Bühne und Kammer geliefert hatte, befeuerte ihn vorzüglich die mit einem in München wirklich beyspiellosen Enthusiasmus aufgenommene Δ italienische Oper in 2 Akten: Ottaviano in Sicilia sich gänzlich der dramatischen Muse zu weihen. Mit wissenschaftlichen Kenntnissen, ja selbst mit dichterischen TalentenΔ begabt, wie er an seiner selbstverfaßten letzten OperΔ: Der Wettkampf zu Olymphia‡, nach Metastasio Δ in gebundener Rede, bewies, hatteΔ er das Glück, einen großen Schritt zur vollendeten Kunstbildung voraus zu haben, in kurzer Zeit giengen aus seiner rastlosen Thätigkeit obige benannte Opern, dann Aucassin und Nicolette in 3 Akten nach Sedaine, von Hiemer, über die Hälfte der Oper Merope und eine Anzahl Konzert-Arien etc. hervor.
Rein eigenthümlich ist ihm, nebst großer Sorgfalt und Wahrheit der Deklamation, jugendlicher, reicher Harmoniefolge und zweckdienlicher mannichfaltiger Instrumentation, eine sich sehr zu italienischer GesanglieblichkeitΔ hinneigende Melodie-Form, die neben ihrer Weichheit, noch das Verdienst einer großen SingbarkeitΔ und das gewisse Kehlgerechte hat, dessen Vernachlässigung manΔ so oft teutschen Komponisten zum Vorwurf machen will. Die trefflichen Sänger und Sängerinnen, wie eine Bertinotti, Harlas*, Brizzi etc. die Δ Bar. Poißl Gelegenheit hatte, sowohl oft zu hören, als hauptsächlich auch zuerst mit Vorliebe für sie zu schreiben, mögen den Hauptgrund zu dieser schätzbarenΔ Eigenschaft gelegt haben.
Die Oper: Athalia, von der ich jetzt vorzüglich beziehungsweise sprechen werde, besitzt diesen Vorzug ebenfalls in hohem Grade, gehört aber im Ganzen mehr der deklamatorischen Gattung an*; ihre Rezitative enthalten gewiß des Musterhaften in dieser RücksichtΔ vieles. Sinnig sind die Hauptmomente der Handlung und des Gefühles durch gewisse eindringende und herrlich wiederkehrende Melodien zusammen gehalten und bezeichnet. Was früher AhnungΔ war, kehrt bestimmt später in voller erfreulicher Gewißheit wieder. Voll dramatischer Wahrheit schreitet alles fort. Schaudererregend tritt der Charakter Athaliens hervor, im Gegensatze zu der würdevollen Erhabenheit in der Melodie des Hohenpriesters, der innigen Sorgfalt Josabeths der reinen lieblichen Kindlichkeit Joas, der Opferknaben Chöre und der gesammten Kraft und edlen Haltung der Chöre des auserwählten Volkes. Ich begnüge mich schließlich zu bemerken, daß von Seite des Dichters auch Treffliches geliefert worden, und auf den versifizirten Dialog, und die Musikstücke jene wahrhafte Liebe zur Sache verwendet ist, die sich bescheiden mit dem Bewußtseyn begnügt, alle Kräfte und Fleiß verwandt zu haben,‡ da selten in Teutschland dem Dichter eine eigentliche Würdigung zu Theil wird.
In München, Stuttgart, Frankfurt und Darmstadt ist Athalia und andere Opern des Kom¦ponisten gegeben wordenΔ, und in Berlin sieht man ihrer Aufführung entgegen*.
Δ Folgende Nachrichten über den Zustand des Königreichs Juda, besonders in gottesdienstlicher Hinsicht, wird Manchem vielleichtΔ nicht unangenehm seyn.
Man weiß aus der heiligen Schrift, daß das Königreich Juda aus den 2 Stämmen Juda und Benjamin bestand, und daß die andern 10, nachdem sie sich gegen den Rehabeam empört, das Königreich Israel ausmachten. Da die Herrscher von Juda aus dem Hause Davids waren und in ihrem Erbtheil die Stadt Jerusalem und der Tempel lag so begaben sich alle Priester und Leviten unter ihren Zepter und blieben ihnen immer getreu, denn es war, seit der Salomonische Tempel erbaut worden, nicht mehr erlaubt, anderswo zu opfern, und der gesetzmäßige Gottesdienst fand demnach nur in Juda statt. Diese Priester und Leviten machten einen sehr zahlreichen Stamm aus. Sie theilten sich in verschiedene Klassen, die nach der Reihe, von einem Sabbath zumΔ andern, den Tempeldienst versahen. Die Priester waren aus der Familie Aarons und durften allein dem heiligen Amte vorstehen. Die Leviten besorgten den Gesang, die Zubereitung der Opfer und die Wache des Tempels. Diejenigen, welche die Wache hatten, wohnten, so wie der hohe Priester in den Hallen, mit denen der Tempel umgeben war, und die einen Theil des Tempels selbst bildeten. Das ganze Gebäude hieß überhaupt das Heiligthum, und insbesondere nannte man aber so den inneren Theil desselben, in welchem die goldenen Leuchter, der Rauchaltar und der Schaubentisch sich befand. In dem Allerheiligsten stand die Bundeslade, und der hohe Priester durfte nur ein einzigesmal im Jahre am Versöhnungstage hineingehen.
So viel im Allgemeinen, jetzt zu den besondern Begebenheiten: Joram König von Juda, Josaphats Sohn, und der Siebente aus dem Hause Davids heurathete Athalia, Tochter des Achab und der Jesabel, die beide, vornehmlich aber Jesabel, wegen ihrer blutigen Verfolgungen der Propheten berüchtigt sind. Athalia, nicht weniger gottlos als ihre Mutter, riß sehr bald ihren Gatten mit zur Abgötterey fort und ließ sogar in Jerusalem dem Baal, einem Götzen aus dem Lande Tyrus und Sidon Δ einen Tempel bauen. Joram, dessen Kinder alle bis auf Ahasja durch dieΔ‡ Araber und Philistaer umgekommen waren, starb selber elend an einer Krankheit die ihm die Eingeweide verzehrte. Ahasja ahmte die Gottlosigkeit seiner Eltern nach, und auch er ward, nachdem er nur ein Jahr regiert hatte, bei einem Besuche, den er bei Jehu – welchen Gott durch seine Propheten zum König über Israel und zum Werkzeug seiner Rache hatte weihen lassen – ablegte, mit in den Untergang des Hauses Achab verwickelt und getödtet. Jehu rottete die ganze Nachkommenschaft Achabs aus, und ließ die Jesabel aus dem Fenster herabstürzen; sie ward der Weissagung des Elias zu Folge ein Raub der Hunde in dem Weinberge desselben Naboths, den sie ehemals getödtet hatte, um sich seines Erbtheils zu bemächtigen.
Als Athalia in Jerusalem diese Hinrichtungen erfuhr, beschloß sie das königl. Haus Davids zu vertilgen und tödtete alle Kinder des Ahasja, ihre Enkel. Glücklicherweise kam Josabeth, die Schwester Ahasjas, dazu, indem man ihre Neffen erwürgte und fand Mittel unter den Todten, den noch saugenden Joas zu retten. Sie vertraute ihn nebst seiner Amme dem hohen Priester, ihrem Gatten an. Er verbarg beide im Tempel und der kleine Joas ward darin bis zu dem Tage erzogen, da man ihn zum König von Juda ausrief.
Die Geschichte setzt diesen Tag nicht fest. Racine hat das Pfingstfest dazu gewählt. Man feyerte an dem Tage das Gedächtniß der Bekanntmachung des Gesetzes auf dem Berge Sinai, und brachte zugleich Gott die Brodte von der neuen Ernde dar, weshalb es auch das Fest der Erstlinge genannt wurde.
Apparat
Zusammenfassung
berichtet kurz von den bisherigen Opern Poißls; danach folgt Charakteristik des einzuführenden Werkes und ausführliche Erläuterung der zugrundeliegenden biblischen Geschichte (Chronik)
Entstehung
17. Mai 1816 (laut TB)
Überlieferung in 2 Textzeugen
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1. Textzeuge: Kaiserlich Königlich privilegirte Prager Zeitung, Jg. 3, Nr. 142 (21. Mai 1816), S. 567
Dazugehörige Textwiedergaben
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Kaiser (Schriften), S. 269–273 (Nr. 93)
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2. Textzeuge: Entwurf: Berlin (D), Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Musikabteilung (D-B)
Signatur: Mus. ms. autogr. theor. C. M. v. Weber WFN 6 (VI), Bl. 45a/r–45b/rQuellenbeschreibung
- über dem Manuskript Titel: „Dramatisch musikalische Notizzen pp. Fortsezzung.“; Incipit: „Dienstag d: 21t. May erscheint zum erstenmal auf unserer Bühne, Athalia.“
- Schluss auf 45b/r fehlt, wurde herausgeschnitten
- auf Bl. 1r und v von DBl., Format 34,4x20,6 cm, WZ durch den Beschnitt des Autographs nur noch auf einem Blatt vorhanden: IK, Kettlinien ca. 2,6 cm
- Datierung laut Kaiser: „Prag, den 17. Mai 1816 laut Manuskript“; wahrscheinlich stammt das Datum vom Schluß des Ms, der verloren gegangen ist; Datierung wird durch Tagebuch vom 17. Mai bestätigt: „Aufsaz über Athalia geschrieben.“
- im Ms keine Pag. von Weber
- im Gegensatz zu den anderen Werkbesprechungen von 1816 nicht bei HellS und MMW veröffentlicht
Textkonstitution
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„Olymphia“sic!
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„… und Fleiß verwandt zu haben,“Satzende im Entwurf gestrichen
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„… bis auf Ahasja durch die“hier bricht der Entwurf ab wegen Beschnitts
Einzelstellenerläuterung
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„… zum Erstenmal auf unsrer Bühne“Vgl. TB-Eintrag sowie das Prager Notizenbuch mit Besetzungsangaben und die Aufführungsbesprechungen. Es gab nur noch eine weitere Aufführung während Webers Amtszeit in Prag, am 31. Juli, vgl. wiederum das TB sowie den Prager Spielplan 1816T.
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„… wie eine Bertinotti , Harlas“Zur Interpretation der Athalia durch Helena Harlas vgl. W. Krahl, E. Bartlitz und F. Ziegler, „[…] bey ihrem Gesange verstummt die Kritik, und Bewunderung tritt an ihre Stelle“ – Das ungewöhnliche Leben der Sängerin Helena Harlas (um 1785–1818), in: Weber-Studien (Bd. 8), Mainz 2007, S. 362f.
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„… mehr der deklamatorischen Gattung an“Zur Entstehung und zur Rezeption des Werkes sowie auch zum Einfluss von H. Harlas auf die musikalische Gestaltung der Titelrolle, vgl. T. G. Waidelich, „Weder italienisch noch Französisch, sondern rein Deutsch.“ Johann Nepomuk Poißls Athalia als Oper „ohngefehr im Genre der Gluck’schen“, in: Weber-Studien (Bd. 3), Mainz 1996, S. 318–346.
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„… sieht man ihrer Aufführung entgegen“Erstaufführungen in Stuttgart am 21. Mai 1815, in Frankfurt/Main am 17. September 1815, in Darmstadt am 2. Februar 1816 und in Berlin am 25. Februar 1817 (Angaben nach Waidelich, s.o., S. 319 Anm. 6).
Lesarten
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Textzeuge 1: „Heute“Textzeuge 2: „Dienstag“
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Textzeuge 1: „vom“Textzeuge 2: „von dem“
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Textzeuge 1: „seine Werke“Textzeuge 2: „sein Werk“
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Textzeuge 1: „geweiht“Textzeuge 2: Text nicht vorhanden.
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Textzeuge 1: „ungefähr“Textzeuge 2: „ohngefähr“
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Textzeuge 1: „gewidmet“Textzeuge 2: „geweiht“
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Textzeuge 1: Text nicht vorhanden.Textzeuge 2: „Große“
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Textzeuge 1: „dichterischen Talenten“Textzeuge 2: „dichterischem Talent“
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Textzeuge 1: „seiner selbstverfaßten letzten Oper“Textzeuge 2: „dem selbstverfaßten Buch seiner lezten Oper“
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Textzeuge 1: Text nicht vorhanden.Textzeuge 2: „bearbeitet“
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Textzeuge 1: „bewies, hatte“Textzeuge 2: „beweißt, hat“
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Textzeuge 1: „Gesanglieblichkeit“Textzeuge 2: „Gesangslieblichkeit“
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Textzeuge 1: „Singbarkeit“Textzeuge 2: „Sangbarkeit“
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Textzeuge 1: „dessen Vernachlässigung man“Textzeuge 2: „was man zu vernachläßigen“
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Textzeuge 1: Text nicht vorhanden.Textzeuge 2: „der“
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Textzeuge 1: „schätzbaren“Textzeuge 2: „schätzenswerthen“
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Textzeuge 1: „Rücksicht“Textzeuge 2: „Hinsicht“
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Textzeuge 1: „Ahnung“Textzeuge 2: „Ahndung“
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Textzeuge 1: „worden“Textzeuge 2: Text nicht vorhanden.
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Textzeuge 1: Text nicht vorhanden.Textzeuge 2: „Für nicht ganz Unterrichtete mögen“
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Textzeuge 1: „wird Manchem vielleicht“Textzeuge 2: Text nicht vorhanden.
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Textzeuge 1: „zum“Textzeuge 2: „zu dem“
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Textzeuge 1: Text nicht vorhanden.Textzeuge 2: „wo Jesabel herstammte“
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Textzeuge 1: „durch die“Textzeuge 2: „von den“