Franz Weber an Friedrich Wilhelm Jähns in Berlin
London, Dienstag, 4. bis Dienstag, 11. November 1879
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Heute ist die Reihe aber einmal an mir Ihnen zu danken für solch prompte und ausführliche Antwort auf mein neuliches Schreiben!
Ich weiß ja wie sehr Ihre Zeit mit wichtigeren Dingen ausgefüllt ist und es bedarf somit kaum der Versicherung daß ich dieses Opfer Ihrerseits in seinem ganzen Werthe zu schätzen verstehe. Haben Sie nochmals Dank für Ihr freundliches Entgegenkommen einem so viel jüngeren Manne gegenüber.
Beschämend war es allerdings für mich von Weber’s Freund Ignaz‡ Susann nichts zu wissen, obschon die Biographie Max Maria’s desselben kaum Erwähnung thut (oder spielt mir meine Unwissenheit dabei wieder einen Streich?). Der erwähnte Brief an Weber wurde der Redaktion von D r Nohl, als „vermuthlich an Thadäus Susann gerichtet“, eingesandt und war von mir, cum grano salis, einstweilen angenommen worden. (Bitte dies als eine Privatmittheilung zu betrachten). Inzwischen suchte ich vergeblich nach irgendwelcher persönlicher Beziehung Weber’s mit Ignaz‡ Thadäus Susan und Ihr lieber, ausführlicher Brief setzt die Sache außer Zweifel. Es war der Brief N o 11, „Abermals hättest Du Ursache“, welcher mir vorlag, und da kein Grund vorhanden ist gerade diesen Brief den Lesern der „Musical Times“, als einen „wenig bekannten und speziell Weber charakterisirenden“ vorzuführen, so unterließ ich die Aufnahme und sandte das manuscript D r Nohl’s zurück. Es thut mir leid daß ich somit nicht die Freude haben kann Ihrer Sammlung einen noch unbekannten Brief des verehrten Meister’s beizufügen.
Nun muß ich mich aber gleich gegen ein Mißverständniß wahren welches aus Ihrem neulichen Briefe hervorzugehen scheint. Ich bin nicht der Redakteur der „Musical Times“, obschon ich mit dem Redakteur* (einem der ersten Professoren an der hiesigen Königl. Akademie der Musik) vielfach Hand in Hand arbeite. Ich schrieb Ihnen, daß ich seit einigen Jahren einen Theil dieser Zeitschrift redigire, worunter zu verstehen ist, daß mir alles was das Ausland betrifft, oder von daher eingesandt wird zur Begutachtung und etwaigen Aufnahme vorgelegt wird, was allerdings zuweilen ziemlich viel Arbeit verursacht. Außerdem betheilige ich mich an dem Blatte mit Aufsätzen („Artikel“ wie man es nennt) Recensionen, hauptsächlich nicht-englischer Werke, u. s. w. und habe schon mehrmals die Genugthuung gehabt meine Arbeiten in deutschen Musikzeitschriften übersetzt zu lesen. Dies mein bescheidener Antheil an der „Musical Times“, welchen ich Ihnen nur deshalb so ausführlich erzähle, damit ich nicht bei Ihnen als vermeintlicher Redakteur des Blattes in ein falsches Licht gerathe. Von früher Jugend auf habe ich mich mit musikalischen Studien beschäftigt (meine liebe, treue Tante Antonie war meine erste Lehrerin im Klavierspiel) ich versuchte mich mehrfach in der Komposition kleinerer Sachen und verschlang mit rechtem Jugendeifer die fundamentalen, und deshalb weitschweifigen, Schriften über Musik-Theorie meines verewigten Großvater’s. Nachdem ich das Gymnasium in Darmstadt absolvirt hatte, betrat ich eine geschäftliche Laufbahn in Hamburg, welche mir glücklicherweise nebenbei vollauf Zeit gewährte mich an dem dortigen akademischen Gymnasium weiter auszubilden, wobei mir das freundschaftlich auszeichnende Entgegenkommen der Professoren, namentlich des damals dort angestellten Professor’s Dr Aegidi* (den Sie vielleicht kennen) stets unvergesslich bleiben wird. Dabei setzte ich meine musikalischen Studien fort, worin ich mich speziell der Geschichte der Musik zuwandte. Ich bildete mir ein, daß sich, bei ernstem Willen und Streben, ein solches Spezial-Studium gar wohl mit einer trockenen Berufsarbeit vereinbaren lasse. Vielleicht verführte mich das Beispiel meines Großvaters, der ja auch die Musik nur als „Erholungsbeschäftigung“ trieb. Das Sprichwort sagt: [„]Was man in der Jugend sich wünscht, daß hat man im Alter die Fülle.“ Nun, ich bin noch nicht so gar alt (es fehlen mir noch zwei Jahre zur Dante’schen „Lebens Mitte“) und es geht mir fast wie dem Goetheschen „Zauberlehrling“ „die Geister die ich rief, werd’ ich nun nicht los“, mit andern Worten, musikalische Arbeiten drohen die geschäftlichen zu überwuchern. Ich tröste mich dabei mit dem Gedanken (außer der „Musical Times“, unstreitig dem ersten Musik-Journal England’s, stehe ich mit mehern andern Zeitschriften in Verbindung) daß Gottfried Weber auch, nach seinem eigenen Ausdruck, ein Musik-Dilettant gewesen ist, und habe das Bewußtsein daß die wahren Interessen deutscher Kunst nicht unter meiner Feder leiden. Der moderne Journalismus ist eine Macht (leider nur zu häufig mißbraucht) deren Bedeutung hier in England größer ist als irgend sonstwo, und meine Verbindung mit der „Musical Times“ ist mir besonders auch deshalb werthvoll weil es mir gestattet ist ohne alle Neben-Rücksichten frei meine Ansichten auszusprechen. Doch genug von diesem egoistischen Thema! Sie kennen mich so wenig, und ich schätze Sie, geehrter Herr Professor, so hoch, daß ich Ihnen ein Stückchen Selbstbiographie schuldig zu sein vermeinte.
Nun zur Beantwortung Ihrer Fragen. Die Ihnen übersendeten Notizen über Hassan und Les Adieux waren nur für Sie bestimmt und es freut mich daß Sie wenigstens von Ersteren Gebrauch machen können. Was ich über die Behandlung des mir vorliegenden Materials sagte bezog sich auf künftige Mittheilungen meinerseits in Bezug auf andere Werke, resp. Opern, Webers. Ich wollte nur von Ihnen wissen ob dergleichen eingehende Angaben, wie ich sie über Hassan gab, für Sie zweckdienlich seien, oder ob es Ihnen nur um Daten und Anzahl der Aufführungen zu thun sei, wie in dem mir eingesandten Schema verlangt wird. Aus Ihrem Schreiben kann ich wohl schließen daß Ihnen aber jede Mittheilung, Weber’s Opern in England betreffend, willkommen sein wird und werde demgemäß verfahren. Ich dachte wohl daß Ihnen die angeführte Stelle in Lesadieux nicht entgangen sein könnte und will demnächst einmal die Sache in der M. T. besprechen, umsomehr als erst kürzlich jenes ─ allerdings recht geschickt zusamnmengeflickte ─ Machwerk in neuer Ausgabe hier erschienen ist. ─ Die Musik-Nummern im Hassan d. h. im englischen Abon Hassan (1825) betreffend, muß ich mich etwas unklar ausgedrückt haben. Natürlich sind alle Textesworte englisch, und ich führte nur den deutschen Text solcher Stücke an welche (nach meiner Ansicht) aus „Preciosa“ entnommen waren. Ich glaube Sie sagten mir einmal daß Ihnen das Englische nicht geläufig ist, bitte Sie aber, als Musiker, einzig nach dem Rhytmus, folgende Verse zu componiren:
Away! Away!
Thou broadly glaring eye of day!
Let cool winds play ─
Away while cool winds play ─
The horn from afar
Greets the evening Star,
As chastely the peeps from her crystal car
Trarah! Trarah!
Ich müßte mich sehr irren wenn Ihnen nicht dabei fortwährend Weber’s „Im Wald“ in den Ohren klänge. Und so ist es mir mit den andren angeführten Nummern ergangen. Welche von den Ballo’s aus Preciosa unter der „Ballet Musik“ zu verstehen sei kann ich freilich nicht feststellen. Im englischen Textbuch heißt es: Ballet-Music and Chorus, nur dieser Chor ist offenbar der aus Preciosa „Es blinken“, es ist deshalb wohl anzunehmen daß auch die „Ballet Music“ demselben Werk entnommen wär.
Vorstehendes erledigt, glaube ich, die von Ihnen gestellten Fragen.
Was Sie über „Freischütz“ Aufführungen in Leipzig sagen setzt mich in Erstaunen; nach solchen Erfahrungen erscheinen Ihnen gewiß die Schwierigkeiten in Bezug auf dieselbe Frage um so erklärlicher welche sich mir hier in den Weg stellen, wo so viele Theater von Zeit zu Zeit Opernvorstellungen gegeben haben und die Direktion solcher Institute in stetem Wechsel begriffen ist. An eine Registratur ist dabei garnicht zu denken, nicht einmal bei den beiden ständigen italienischen Opern. Letztere muß man sich übrigens auch nicht als Kunst Institute vorstellen; es handelt sich bei denselben einfach um eine Geschäfts Unternehmung, wie auch die zeitweiligen Direktoren heißen mögen. So war’s schon zu Händel’s Zeit; so wird’s auch noch eine gute Weile bleiben, nämlich so lange italienische Oper eine Modesache bleibt. Die Faustinas und Cuzzoni’s von dazumal, die Pattis und Nilssens* von heutzutage regieren die Direktoren, wie das Publikum. Unter solchen Umständen erscheint es den Administratoren unendlich wichtiger wievielmal Patti in der Saison gesungen hat, als welche Opern zur Aufführung gelangten; welches Letztere, leider Gottes!, wirklich bei diesen Instituten als Nebensache gilt. Doch genug über dieses unerquickliche Thema. Die „Musical Times“ eifert schon seit Jahren gegen diesen Unfug welcher hier (und auch anderswo) mit der Kunst getrieben wird, und hat schon manches Samenkorn künftiger Reform auf guten Boden fallen sehen. Die Truppe des Carl Rosa liefert dafür einen Beweis*.
Eine Stelle in dem oben angeführten Brief Weber’s an Susann, in Betreff der geordneten Uebergabe der Bücher des Prager Theaters, könnte den hiesigen Herren Opern-Direktoren zum Muster dienen. Allein, wie Lessing sagt, das Genie ist der Fleiß, und die Gewissenhaftigkeit in Sachen der Kunst hat dabei auch ihren Antheil, wofür jedoch diese Herren keinen Sinn haben. ─
Sobald „Euryanthe“ bei Novellos erschienen ist wird Ihnen ein Exemplar zugestellt werden.
Vielleicht interessiert es Sie zu wissen daß ich die erste (Eder’sche) Ausgabe von den „Huit Variations sur l’air de Ballet de Castor et Pollux“ besitze, mit der Inschrift, von Weber’s Hand: Per uso della Signora Augusta Weber. dall Autore ─ Carlo Maria di Weber. ─ mit einer auf die Außenseite geklebten Etiquette worauf, ebenfalls von Weber’s Hand, geschrieben ist C. Maria di Weber | Variazioni, Cembalo Solo
Es war vermuthlich eines der ersten Geschenke an meine, von ihm so hochgeschätzte Großmutter.
Gern möchte ich die Streitfrage über den famosen Räthsel Canon „Ach wie gelehrt ─ umgekehrt“ aufklären, da ich überzeugt bin daß es sich dabei nicht um eine absichtliche Verfehlung des wahren Autor’s handelt (die Sache wäre wirklich zu absurd!) doch sind meine Untersuchungen bis jetzt erfolglos geblieben. Ich besitze fast alle, früher Gottfried Weber angehörige, Schriften aus seiner Feder, einschließlich der Nummern der ’Cäcilia’ (aus meines Vaters, seines ältesten Sohnes, Nachlaß) welche in unzähligen Randglossen von des Verfasser’s rastloser Geistesthätigkeit Zeugniß geben, doch ist es mir seither nicht gelungen einen Aufschluß über diese Frage zu ermitteln. Doch gebe ich die Hoffnung nicht auf, umsomehr als es sich hier, nach Ihren Bemerkungen im „Verzeichniß“, beinahe um eine Ehrensache in Bezug auf G. Weber handelt*, in dessen Charakter sonst gerade die Offenheit, und in Sachen der Kunst sogar zuweilen eine gewisse Rücksichtslosigkeit, oder mindestens Rückhaltslosigkeit, ein bezeichnendes Merkmal gewesen ist.
Von meiner Tante Antonie habe ich gute Nachricht. Sie sorgt mit treuer Liebe für die Erziehung der verwaisten Kinder meines unvergesslichen Onkels, Dr Karl Weber, eines wahren Märtyrers für seinen Beruf als Mediziner. Seit vielen Jahren selbst leidend, war er stets ein Sonnenschein im Krankenzimmer, und sein scharfer Kombinationsgeist ließ ihn in allen ernsten Fällen das Richtige treffen.
Darmstadt hat viel, sehr viel in ihm verloren, davon können Reich und Arm Zeugniß ablegen. Seitdem sorgt meine treue Tante Antonie für den Haushalt und die Erziehung der Kinder, gewiß keine leichte Aufgabe, die aber bei ihr in den besten Händen ist!
Ich denke ich habe Ihre Geduld längst erschöpft, werther Herr Professor, hoffentlich kann ich Ihnen bald interessantere Mittheilungen machen.
Einstweilen grüßt Sie von ganzem Herzen und in aufrichtigster Hochschätzung Ihr F.Weber
Apparat
Zusammenfassung
der fragliche Brief an Susan war ihm von Nohl zur Veröffentlichung angeboten worden, er fand ihn aber nicht interessant genug und hat ihn zurückgeschickt; schreibt weiterhin, dass er als Co-Redakteur an der Musical Times tätig und für Berichte aus dem Ausland verantwortlich sei, selber aber auch Artikel und Rezensionen schreibe, erzählt Einzelheiten zu seiner beruflichen und musikalischen Entwicklung und geht nochmal auf seine Mitteilungen zu Abu Hassan und Preciosa ein; die schnell wechselnden Direktoren bei den vielen kleinen Theatern erschweren jedwede Recherche, zumal ihnen die auftretenden Stars wichtiger als die gespielten Opern sind; sobald Euryanthe bei Novello erschienen ist, wird er sie senden; er besitzt den Erstdruck der Variationen aus Castor u. Pollux mit hs. Widmung Webers an seine Großmutter Auguste Weber; zum Rätsel-Canon kann er ihm keinen Aufschluss geben, besitzt schriftlichen Nachlass von Gottfried Weber; Dr. Karl W. (Arzt) war zu dem Zeitpunkt schon tot, dessen Kinder wurden von Antonie erzogen
Incipit
„Heute ist die Reihe aber einmal an mir“
Verantwortlichkeiten
- Übertragung
- Eveline Bartlitz; Joachim Veit
Überlieferung
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Textzeuge: Berlin (D), Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Musikabteilung (D-B)
Signatur: Weberiana Cl. X, Nr. 653Quellenbeschreibung
- 4 DBl. (16 b. S. o. Adr.)
- am oberen linken Rand Bl.1r Briefnumerierung von F. W. Jähns (rote Tinte): „3.)“
Dazugehörige Textwiedergaben
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Tv in: Weberiana 18 (2008), S. 89f., 100, 105 (Ausschnitte)
Textkonstitution
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„Ignaz“sic!
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„Ignaz“sic!
Einzelstellenerläuterung
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„… obschon ich mit dem Redakteur“Von 1863 bis 1887 war Henry Charles Lunn (1817–1894) der Redakteur (editor) der Musical Times.
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„… dazumal, die Pattis und Nilssens“Bezogen auf die Primadonnen Faustina Hasse-Bordoni (1697–1781), Francesca Cuzzoni (1696–1778), Adelina Patti (1843–1919) und Christine Nilsson (eigentlich Kristina Törnerhjelm, 1843–1921).
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„… Rosa liefert dafür einen Beweis“Der deutsche Impresario Carl (August Nicholas) Rosa (eigentlich Rose, 1842–1889) gründete 1869 gemeinsam mit seiner Frau Euphrosine Parepa-Rosa eine Opera Company, die vor allem in Amerika und ab 1872 in Großbritannien aktiv war.
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„… Bezug auf G. Weber handelt“Vgl. Jähns (Werke), S. 111–113.