Chronik der Königl. Schaubühne zu Dresden vom 11. November 1816 (Teil 2 von 3)

Zurück

Zeige Markierungen im Text

Vandycks Landleben

(Fortsetzung.)

Gewiß, wenn man die ungemessene Willkühr in Anschlag bringt, mit welcher, was sich jetzt gemeinhin dramatischer Dichter schelten läßt, das Theater, als wäre es ein Findel- oder Vagabondenhaus, zu bevölkern pflegt, so ist’s schon kein geringer Lobspruch, wenn man von einem Stück, das so 28 Personen auf der Personenliste nennt, erweisen kann, daß fast keine davon ganz entbehrlich, das Erscheinen der meisten aber im Gange des Stücks nothwendig bedingt war. Recht erwogen, könnte allenfalls nur Rubens selbst wegfallen. Und doch verbreitet sein Wiedererscheinen allgemeines Wohlbehagen. Er ist ja der geistige Vater dieses verlornen und für die Kunst wiedergefundenen Sohnes. Er hat das Leibroß ihm geschenkt, auf welchem der Entfesselte mit fliegendem Mantel, ein zweiter Martinus, zum sichern Zeichen, es sey hier an keinen Rückfall in die flammändische Gemeinheit zu denken, vor den Augen der hier recht aus voller Hand klatschenden Menge davonsprengt. Daß nur niemand wähne, Nanni’s Reiz begabte Nichte stehe blos als auffallende Figur in der Theaterblende da! Gerade sie ist die Vermittlerin und huldvolle Friedensgöttin in diesem Drama. Durch sie muß das liebekranke Lenchen zum heldenmüthigen Entschluß, dem Ruhm des Geliebten ihre Leidenschaft zu opfern, schonend hingeführt, durch sie dem gereizten Vandyck die Zunge zum Geständniß seiner ersten, zwei Helenen mit einander verwechselnden, Jugendliebe gelöst werden. Hat der von Liebe Bethörte seinem Lenchen im Altargemälde die erste Stelle angewiesen, so erscheint ihm nun Paola im letzten Akt selbst als eine Madonna drapirt, als Repräsentantin höherer, italienischer Kunstgebilde (ob es eine wirkliche Römerin je wagen würde, ist eine andere Frage) verkörpert ihm in begeisterte ) Stellung des Genius des Ruhms von Annibale Caracci, und wird ihm lockende Botin aus den Hesperiden- und Kunstgärten Italiens. Aber eben dadurch wird nun auch die ganze Scenerei des letzten Aufzugs, die hie und da Anstoß gegeben hat, vollkommen gerechtfertigt, und sie würde es noch mehr seyn, wenn der Einfall, ein Mädchen mit dem Lilienstengel, einen Knaben mit dem Myrthenkranz an die Eingangsstufe der Kirche zu stellen, nicht vom Dorf- Küster Thomas, sondern von Paola selbst ausginge. Denn wo wäre diese ächt italiänische Gruppirung in die Seele eines flammändischen Organisten und Schullehrers gekommen? Die herrliche Scene selbst aber vollendet ganz den Contrast der niederländischen und römischen Kunst; ein Ostadisches Bauer- und Kirchweihgetümmel schwärmt und tanzt uns beim Anfang entgegen, eine Madonna, wie sie Guido malt, mit dem Verkündigungsengel in den Schwibbogen des Kirchthors gestellt, entzückt uns am Schluß in die höhern Kunstregionen, in welchen Vandyck auch wirklich seine berühmtesten historischen Compositionen – man sehe die Vandyck’schen Zimmer im Belvedere zu Wien – in der Folgezeit geschaffen hat.

Wir sagen hier nichts von der durchweg verständigen Ordonanz des Stücks, wo trotz der Ueberzahl der Mitspielenden und Einzelnheiten nirgends eine Verworrenheit und Undeutlichkeit obwaltet und die reichste Fülle der beschaulichen Klarheit nie Abbruch thut; selbst die hochvollendete Schönheit des Stils und der Verification, die sich in mannigfachwechselnden Formen und Sylbenmaße mit kräftiger Prosa, wo diese allein dazwischen sprechen konnte, durchflochten, wie der feingewobene Schleier allen Lagen und Gemüthsstimmungen leicht und schmiegsam anpaßt, bleibe hier unerwähnt, ¦ weil dies billig einer andern Beurtheilung vorbehalten bleibt und ein Stück der Art erst bei ruhiger Lectüre ganz gewürdigt werden kann. Hier sei nur das noch im Allgemeinen bemerkt: Da dies Schauspiel gewissermaßen eine ganz neue Art von Drama, das wir das artistisch-naive nennen möchten, begründet und weder hervorstehende Charakterentwickelungen noch künstliche Intriguenverwickelung darstellt, so ist es unüberlegt und ungeschickt den gemeinen Maaßstab daran zu legen, so ist es einigermaßen ungerecht, es gleich nach ein- oder zweimaliger Beschauung abwägen oder gar beurtheilen zu wollen. Das größere Publikum muß sich durchaus erst hineinschauen und hineindenken lernen, und darum ist häufige Wiederholung desselben auf unsern vorzüglichen Bühnen doppelt wünschenswerth. Mögen die Directionen es doch hier ja nicht blos auf die erste Vorstellung ankommen lassen!

Man kann im Ganzen vom Kunstaufwand der Schauspieler sowohl, als der Scenerei und Costümirung nicht Rühmliches genug sagen. Es ist offenbar, daß die durchaus liberale und dem Dichter, der selbst die artistischen und scenischen Vorbereitungen zum Theil leitete, gern gewährende Direction keine Kosten, das treffliche Schauspielerpersonale aber, Herrn Hellwig als Regisseur an ihrer Spitze, keine Mühe und Anstrengung scheuete, um diesem ächt vaterländischen Originalproducte die volleste Gerechtigkeit wiederfahren zu lassen. Durch die hier und überall einsichtsvoll eingreifende Vermittelung des Directors, des Hofmarschalls Grafen von Vitzthum, waren die Schauspieler sogar veranlaßt worden, die Königl. Gemäldegallerie einigemale blos in der Absicht zu besuchen, um sich durch die lebendigste Anschauung im Malerischen und Ueblichen, worauf hier so viel ankommt, zu unterrichten, und vom Vorsteher der Königl. Reitschule wurde ein Schimmel, der wie bestellt dazu passte, mehrere Tage vorher zur Statistenrolle, die ihm hier zu Theil werden sollte, kunstmäßig zubereitet. Prof. Pochmann hatte die drei für diesen Zweck passendsten und gut fernenden Gemälde von Rubens auf unsrer Gallerie zur Ausschmückung von Rubens Malerstube mit vollkommener Berechnung des Effects gemalt. Der Herr Kantor Weinlich trug die von ihm komponirte Fuge auf der kleinen Orgel in der Kapelle, während die Gemälde- Beschauung dort vorgeht, mit schmelzenden Tönen vor. Mehrere ganz neue Decorationen waren von dem Hoftheatermaler Winkler und Jentsch, zwei erprobte Meister in ihren Fächern, dazu verfertigt und in Ausschmückung des Innern, in Stellung und Gruppirung ein seltener Fleis angewendet worden und die zum Theil auf Schatten und Licht sehr genau zu berechnenden Maschinerien ließen nichts zu wünschen übrig. Das sehr zahlreich, ja bis zum Ueberfluß sich einfindende Dresdner Publikum zeigte sich durch die Art, wie es sich während der Vorstellung selbst betrug, und während derselben keine Theilnahme zu erkennen gab, einer solchen Kunstausstellung vollkommen würdig. In der ersten Vorstellung herrschte die gespannteste Stille und Aufmerksamkeit. Man wollte unbefangen zuhören, genau auffassen, die Neuheit und Ungewohntheit durch angestrengtes Hören und Schauen überwinden. Nur einmal, als Mad. Schirmer als Lenchen durch ihr herzschmelzendes Zauberspiel und die gelungenste Verschmelzung des Naiv- Sentimentalen alles unwiderstehlich hinriß, durchbrach ein Sturm von Beifallklatschen die Dämme. Aber ein lautes allgemeines Bravorufen und Jubeln huldigte nicht dem Schimmel, wie einige Unberufene sich einbildeten, sondern dem Dichter und seinen trefflichen Dolmetschern, den Schauspielern, am Schlusse des Stücks.

(Die Beschluß folgt.)

Apparat

Zusammenfassung

Aufführungsbericht Dresden: „Van Dyks Landleben“ von Friedrich Kind am 11. November 1816 (Teil 2 von 3)

Entstehung

vor 6. Januar 1817

Verantwortlichkeiten

Übertragung
Albrecht, Christoph

Überlieferung

  • Textzeuge: Abend-Zeitung, Jg. 1, Nr. 5 (6. Januar 1817), Bl. 2v

    Einzelstellenerläuterung

    • inrecte „die“.

      XML

      Wenn Ihnen auf dieser Seite ein Fehler oder eine Ungenauigkeit aufgefallen ist,
      so bitten wir um eine kurze Nachricht an bugs [@] weber-gesamtausgabe.de.