Carl Maria von Weber an Hinrich Lichtenstein in Berlin
Dresden, Donnerstag, 1. April 1824
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Mein vielgeliebter Bruder!
Eine wunderlich bewegte Zeit habe ich verlebt; und vielleicht war es gut daß meine ungeheure Dienstlast /: da ich noch immer allein bin :/ mich nicht recht zur Besinnung komen ließ. doch konnte ich es nicht wehren daß sich eine große Bitterkeit in meinem Herzen fest sezte. in Prag fiel Euryanthe durch*. in Frankfurt machte sie Furore*. das wahrhaft niederträchtige Geschreibsel der Wiener Klatschblätter hatte alle Gemüther wunderlich gestimmt*. ich war daher sehr begierig auf die Wirkung die dieses Werk auf unser gemeßeneres von Haus aus kaltes, viel lesendes Publikum machen würde. die Stimmung war gewiß eher gegen das Werk als dafür. Gestern Abend nun war Euryanthe; und, welchen über alle Beschreibung glänzenden Triumph habe ich erlebt. So ergriffen, so enthusiasmirt habe ich unser Publikum noch nie gesehen. Mit jedem Akt stieg die Begeisterung. am Schluß wurde erst ich mit wahrem Sturm gerufen, dann Alle*.
Es war aber auch eine vortreffliche Vorstellung. besonders die Devrient als Euryanthe und die Funk als Eglantine übertrafen sich selbst, in Spiel und Gesang. Mayer als Lysiart, und Bergmann Adolar, sehr brav. die Chöre ganz ausgezeichnet. die Kapelle mit einer Vollendung der Nuançirung, wie man sie nur bei uns hören kann.
Es ist jezt nur eine Stimme darüber, um wie vieles höher diese Oper als der Freyschütz stehe.
Tiek, unter andern, sollte noch nach der Oper in Gesellschaft gehen, erklärte aber daß sein Gemüth zu sehr erfüllt sei; und sagte /: zu andern natürlich :/ Es seyen Sachen in dieser Oper um die mich Gluk, und Mozart beneiden müßten. Ich weiß lieber Bruder, daß ich dir so etwas wieder erzählen kann ohne mißverstanden zu werden, zu Niemand sonst in der Welt würde ich es wagen.
Ich werde alle Augenblike von Glükwünschenden gestört. du wirst schon mit diesem raphsodischen‡ Geschreibsel vorlieb nehmen müßen. Brühl hatte mir die Aufführung der Eur: zu Ende Aprill bestimmt. | ich schrieb darauf an Ihn, und Spontini, und Blum, daß ich zu den lezten Proben selbst kommen würde, und die treffliche Ausführung mit anzusehen. Vor ein paar Tagen erhalte ich Antwort wo er die Oper wieder aufs ungewiße hinaus schiebt. Und gestern ein höchst merkwürdiger Brief von Spont: worin er mir verspricht alles mögliche zu thun, da er überzeugt wäre alles was meinen Namen trüge wäre vortrefflich. sagt mir aber im Vertrauen offenherzig, die Oper habe doch in Wien nicht gefallen, darüber stimmten alle öffentlichen und Privatnachrichten überein, ausgenomen ein Artikel von dem Dichter der Satyre auf Olimpia*. Uebrigens könne Brühl selbst kein Werk annehmen, das nicht von einem Comité von 6 Künstlern vorgeschlagen wäre; da nun dieses nicht geschehen, so wüßten sie nichts von Eury: und sie sey für sie noch gar nicht in Berlin. Endlich, müßte jezt Cortez, Othello. Mèdea, Gazza ladra Prince Riquet von Blum, die Rosieres von Herold pp gegeben werden. und Mad: Seidler sei außer Stand, Proben zu halten oder große Opern zu singen. Schließlich wolle Brühl selbst vor dem Herbst keine große Oper der bedeutenden Kosten wegen geben. — — Was sagst du dazu? ich werde Brühl den Brief Auszugsweise mittheilen, und die Sache gehen laßen wie sie will: denn mir meine Aufführung zu erbetteln habe ich keine Lust.
Kalkbrenners Bekanntschaft hat mir große Freude gemacht*. das ist der Klavierspieler wie er sein soll.
Nächstens Mehreres und Geordneteres! Alles herzliche an deine liebe Frau, Kinder, Eltern, und Freunde. Mit treuer Liebe dein Weber Dresden d: 1t Aprill 1824.
Apparat
Zusammenfassung
enorme dienstliche Belastung; Euryanthe in Prag durchgefallen, in Frankfurt hingegen großer Erfolg; eher ablehnende Haltung des Dresdner Publikums aufgrund der Wiener Kritiken; Aufführung dennoch ein Triumph für Weber, Leistung der Interpreten; Publikum sehr ergriffen, Vergleiche mit Gluck und Mozart, dauernd Glückwünsche; geplante Aufführung der Euryanthe in Berlin stößt auf Schwierigkeiten, besonders seltsame Reaktion Spontinis; lobt Klavierstil Kalkbrenners
Incipit
„Eine wunderlich bewegte Zeit habe ich verlebt“
Verantwortlichkeiten
- Übertragung
- Eveline Bartlitz; Joachim Veit
Überlieferung
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Textzeuge: Leipzig (D), Leipziger Stadtbibliothek – Musikbibliothek (D-LEm)
Signatur: PB 37 (Nr. 46)Quellenbeschreibung
- 1 DBl. (2 b. S. o. Adr.)
Dazugehörige Textwiedergaben
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La Mara, Musikerbriefe aus fünf Jahrhunderten. Nach den Urhandschriften erstmalig herausgegeben, Bd. 2, Leipzig 1886, S. 87–89 (nach einer Kopie in D-B, Weberiana Cl. II B)
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Rudorff: Westermanns illustrierte deutsche Monats-Hefte, 44. Jg. (1899), 87. Bd., S. 367–368
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Rudorff 1900, S. 133–136
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Worbs 1982, S. 120–121
Textkonstitution
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„raphsodischen“sic!
Einzelstellenerläuterung
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„… in Prag fiel Euryanthe durch“Die EA in Prag fand am 11. März 1824 statt, zur negativen Aufnahme vgl. Besprechung im Gesellschafter.
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„… in Frankfurt machte sie Furore“In Frankfurt wurde die Euryanthe erstmals am 8. März 1824 gegeben; die Frankfurter Kritik ist nicht so enthusiastisch, wie es Weber hier beschreibt; vgl. v.a. die Besprechung im Morgenblatt für gebildete Stände.
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„… wahrem Sturm gerufen, dann Alle“Vgl. auch Webers Tagebuch-Eintrag vom 31. März 1824.
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„… Dichter der Satyre auf Olimpia“Laut Spontinis Brief vom 28. April 1824 ist damit Friedrich Försters Gedicht zur Freischütz-Premiere gemeint.
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„… hat mir große Freude gemacht“Auf seiner Konzertreise gemeinsam mit dem Harfenisten Dizi konzertierte Kalkbrenner u. a. am 13. Dezember 1823 in Berlin; vgl. AmZ, Jg. 26, Nr. 2 (8. Januar 1824), Sp. 20. Lichtenstein hatte ihn offenbar in seinem Brief von Anfang Dezember an Weber empfohlen. Am 21. Dezember trafen Kalkbrenner und Dizi auf dem Weg nach Wien in Dresden ein (vgl. Tagebuch).