Webers Notizen-Buch und weitere Archivalien des Prager Ständetheaters
Die einzige von Weber selbst herrührende Archivalie des Ständetheaters, deren Verbleib derzeit bekannt ist, ist das Prager Notizen-Buch, das heute in der Bibliothek des Prager Konservatoriums (Knihovna Pražské konzervatoře) verwahrt wird. Das Manuskript gehörte zu den besonderen Pretiosen der Autographensammlung von Fritz Donebauer, die 1908 bei J. A. Stargardt in Berlin zur Versteigerung kam, wurde aber nicht verkauft und ist noch 1916 in Donebauers Besitz nachgewiesen1. Im Auktionskatalog wurde auf den herausragenden Rang der Quelle hingewiesen, sie gehöre „zu den wichtigsten Dokumenten für die Lebensgeschichte des Meisters und die Geschichte des Prager Theaters“ und enthalte „über die künstlerische Tätigkeit Webers eine ganze Reihe neuer Einzelheiten“2. Erstmals umfangreicher vorgestellt wurde das Manuskript, dem in Max Maria von Webers umfangreicher Weber-Biographie nur wenige Zeilen gewidmet sind3, 1916 durch Robert Haas4.
Doch Webers administrative Arbeit schlug sich ursprünglich in wesentlich umfangreicheren Akten-Faszikeln nieder. Dafür sprechen u. a. zwei Briefe, in denen jeweils von mehreren Prager „Büchern“ bzw. „Inventarien“ von seiner Hand die Rede ist. Beide Briefe berichten aus der Rückschau; sie sind erst in Webers Dresdner Zeit entstanden, zunächst jener vom 3. Juni 1817 an die Verlobte Caroline Brandt, auf deren Nachfrage bezüglich der Archivarbeit am neuen Wirkungsort Weber launisch schreibt:
„Sieh’! bei einem ordentlichen Theater, wo die Geschäfte nicht so wie die Schweine durch einander gejagt und getrieben werden, müßen alle Vorträge, Berichte, Pläne, Entwürfe, Entscheidungen, Anordnungen, Verhandlungen kurz alle das ganze Wesen betreffende Papiere in der Zeitfolge zusammen geheftet und aufbewahrt werden. damit man sehen kann, was geschehen ist. Das nennt man Akten. […] Ja, in Prag giebt es freilich keine Akten, außer die Bücher die ich entworfen habe, aber Gott weiß in welchem Zustande die jezt sind.“
Noch deutlicher wird Weber in einem Brief an Carl August Fesca vom 2. Juli 1818, der gleichzeitig sein Arbeitsethos als musikalischer Leiter unter Beweis stellt. In dem Schreiben heißt es:
„Ich hatte in Prag bey Uebernahme meiner Operndirektion nichts vorgefunden was einen Leitfaden für die Geschäftsführung hätte geben können. die Ansichten die ich von den Pflichten eines Künstlers habe legten mir die Verbindlichkeit auf, meinen Nachfolger nicht eben diese Unordnung finden zu laßen, ich vervollständigte die von mir angefangenen Bücher, Inventarien, Notizen pp aller Art.“
Eindeutig ist die Schlussnotiz im Notizen-Buch, nach welcher Weber am 4. Oktober 1816 gemeinsam mit dem Notizen-Buch eine „Acte der Organisation und Gesezze des Orchester und Chors“ sowie je eine Sammlung mit „Verhandlungen und Correspond:[enz]“ bezüglich des Orchesters sowie des Sänger- und Ballett-Personals übergab.
Somit ist klar, dass nicht alle Erwähnungen von Archiv-Arbeiten in Webers Tagebuch eindeutig mit dem Notizen-Buch in Verbindung zu bringen sind, allerdings lassen sich kaum eindeutige Zuordnungen treffen, zumal Webers Terminologie (er spricht meist von „Catalog“, aber auch von „Inventarium“, „Opern Verzeichniß“, „Opern Uebersichten“, „Büchern“) nicht konsequent scheint. Zudem ist die Datierung des Notizen-Buches nicht zweifelsfrei. Die Titelaufschrift „Notizen-Buch. | Die Opern, Melodr: etc: etc: betreffend. | Vom September 1813 an, entworfen, fortgeführt, und | Den 4t October abgeliefert“ ist wohl nicht so zu interpretieren, dass das Buch bereits im September 1813 entworfen und fortlaufend ergänzt wurde; vielmehr umfasst es inhaltlich den Zeitraum ab September 1813 (bis September 1816). Der Zeitpunkt der Niederschrift ist, abgesehen vom terminus ante quem (4. Oktober 1816), nicht mit Sicherheit auszumachen5. Auf den Umstand, dass Weber das Notizen-Buch nicht durchgängig über die Jahre 1813 bis 1816 führte, sondern vermutlich erst nachträglich die ihm wichtig erscheinenden Angaben zusammenfasste, könnte hindeuten, dass im Falle der Oper Die Vestalin die Rolle der Oberpriesterin zunächst Mad. Allram zugeordnet ist und Weber erst an letzter Stelle (als Nachtrag) auf das „Debut der Mlle: Vliegen“ in dieser Partie hinweist, die, wie das Tagebuch bestätigt, bereits bei der Erstaufführung des Werks mitgewirkt hatte. Die Allram übernahm die Partie erst bei der 5. Aufführung, wie wiederum das Tagebuch ausweist. Auch in anderen Fällen gibt das Notizen-Buch nicht, wie es zunächst den Anschein hat, zuerst die jeweilige Premierenbesetzung, sondern gewissermaßen eine Standardbesetzung in der Anfangslaufzeit des Werks wieder: In Adrian von Ostade sang Christine Böhler die Partie der Marie erstmals am 7. Juni (noch nicht am 4. Juni); bei der Neueinstudierung von Figaros Hochzeit am 1. August 1814 sang Louis Brandt als Gast die Titelpartie, eingetragen ist von Weber jedoch bereits Franz Siebert. Manche Personennachträge von Webers Hand dokumentieren zudem nur Vorschläge für Rollenbesetzungen, keine tatsächlich absolvierten Vorstellungen; so ist der Name Zeltner in mehreren Stücken eingetragen, die zwischen dem Debüt des Bassisten (26. August 1816) und Webers Abgang vom Prager Theater Ende September 1816 nicht auf dem Spielplan standen.
Ein erster Beleg für die Beschäftigung mit dem Ständetheaterarchiv findet sich in Webers Tagebuch am 12. März 1813: „in der Kanzley am Catalog.“ Hier dürfte keinesfalls das Notizen-Buch gemeint sein, denn bereits am 9. März 1813 heißt es im Brief an Gottfried Weber bezüglich der übernommenen Aufgaben: „denke also was alles auf mir liegt, dazu die Verfertigung eines neuen Catalogs des Theater Archivs das in der grösten Unordnung ist pp“. Es ging also wohl eher um einen Nachweiskatalog für die in der Theaterbibliothek vorhandenen musikalischen Aufführungsmaterialien, deren Kenntnis für Webers Amtsführung von zentraler Bedeutung war. Zwar mutet es aus heutiger Sicht eigenartig an, dass die Führung eines solchen Verzeichnisses nicht einem Bibliothekar oder dem Orchesterdiener (Notenwart) anvertraut war, doch auf eine vergleichbare Zuständigkeit weist auch Franz Ignaz von Holbein in seinem Organisations-Lexicon des Königlich Großbrittanisch-Hannöverschen Hof-Theaters (Hannover 1817, Stichwort „Bibliothek“) hin, wo es heißt:
„Das Bibliothekar-Geschäft führen die Inspicienten und der Musik-Director, da die Bibliothek nicht weniger die Sammlung der Rollen und Schauspiel-Bücher, als sämmtliche Opern und Musikalien enthält. […] Die Oberaufsicht der Bibliothek-Verwaltung theilt der Ober-Regisseur mit dem Capellmeister, jener den Theil das Schauspiel, dieser den die Oper betreffend.“
Nach dem Anlegen eines neuen Katalogs delegierte Weber die Alltags-Arbeit, also das Bereitstellen des Notenmaterials für Proben und Aufführungen und die Pflege der Bibliothek, allerdings, wie aus seinem Notizen-Buch hervorgeht, an den Orchesterdiener Carlo Poletti.
Zweifelhaft bezüglich ihrer Zuordnung sind drei Tagebuchnotizen aus dem Jahr 1815:
- 22. April „am Inventarium gearbeitet.“
- 28. Mai „am Opern Verzeichniß gearbeitet.“
- 6. Juni „Opern Uebersichten vollendet pp“
Es wäre denkbar, dass Weber in Hinblick auf sein (bereits geplantes?) Ausscheiden aus dem Amt schon hier mit der Vorbereitung der Unterlagen für seinen Nachfolger begann. Vielleicht entstand in diesen Monaten der erste Teil des Notizen-Buches (enthaltend die Opernnachweise bis zur Agnes Sorel, erstaufgeführt am 15. Mai 1815)? Die wechselnde Terminologie lässt freilich auch denkbar erscheinen, dass hier unterschiedliche Nachweisinstrumente gemeint sind, vielleicht auch Vorformen des Notizen-Buchs, die durch dessen spätere Anlage überflüssig und daher von Weber selbst vernichtet wurden.
Dann finden sich erst wieder im März/April 1816 vergleichbare Hinweise:
- 2. März „Opern Verzeichniß für den Fürst Lobkowitz gemacht.“
- 8. März „in die Kanzley am Catalog gearbeitet.“
- 21. März „in die Kanzley am Catalog gearbeitet.“
- 27. März „Katalog“
- 11. April „gearbeitet in der TheaterKanzley“
- 12. April „in die Kanzley, Catalog.“
Anton Isidor Fürst von Lobkowitz übernahm im Verlauf des Jahres 1816 das Präsidium der Theateraufsichts-Kommission; möglicherweise hatte er ein Opernverzeichnis angefordert, um sich einen Überblick zu verschaffen. Ebenso wie der 1815 gefasste Entschluss, Prag zu verlassen, könnte auch dies der Auslöser für die Entstehung des Notizen-Buches gewesen sein. Bei den „Catalog“-Erwähnungen könnte freilich auch der bereits erwähnte Katalog der Aufführungsmaterialien gemeint sein.
Im Vorfeld der Amtsübergabe im Herbst 1816 häufen sich dann die Archiv-Arbeiten – in diesem Zeitraum vollendete Weber das Notizen-Buch (hier entstanden sicherlich die dem eigentlichen Opernverzeichnis folgenden „Notizen und Bemerkungen die Oper betreffend für meinen Nachfolger“), aber auch andere wichtige Aktenablagen, die er in korrekter Form hinterlassen wollte, um quasi ein „bestelltes Feld“ zu übergeben (vgl. dazu auch den Brief vom 22. November 1816 an Rochlitz):
- 12. September „in der Kanzley gearbeitet“
- 16. September „Abends gearbeitet. Catalog.“
- 21. September „im Theater gearbeitet.“
- 22. September „gearbeitet. Catalog pp“
- 23. September „gearbeitet. Catalog. […] Catalog im Theater.“
- 25. September „in der Kanzley gearbeitet.“
- 1. Oktober „gearbeitet in den Büchern.“
- 3. Oktober „Bücher vollendet“
- 4. Oktober „an Liebich geschrieben und ihm alles geschikt.“
Ediert wurde das Notizen-Buch bereits zweimal: 1944 durch Zdeněk Němec und 1985 durch Jaroslav Bužga, allerdings bei Němec nicht im Original, sondern in tschechischer Übersetzung6, bei Bužga aus Platzgründen in vereinfachter Form7. Die hier vorgestellte Wiedergabe orientiert sich an der von Weber gewählten Anlage (wenn auch im äußeren Aufbau etwas standardisiert) und beschränkt sich auf die Eintragungen von Weber. Spätere Nachträge und Korrekturen bleiben unberücksichtigt, um den Zustand der Quelle zum Zeitpunkt der Vollendung durch Weber (Oktober 1816) zu dokumentieren.
Weiter zur Edition des → Notizen-Buchs.
Eine Übersicht weiterer Themenkommentare zu Webers Wirken am Prager Ständetheater findet sich in der Dokumentation „Carl Maria von Weber als Operndirektor des Prager Ständetheaters von 1813 bis 1816“.
Einzelnachweise
- 1Vgl. den Nachruf auf Donebauer in: Prager Tagblatt, Jg. 41, Nr. 155 (5. Juni 1916), Abend-Ausgabe, S. 2.
- 2Sammlung Fritz Donebauer – Prag. Briefe, Musik-Manuscripte, Portraits zur Geschichte der Musik und des Theaters, Katalog zur Versteigerung vom 6. bis 8. April 1908, Vorwort von Richard Batka, Berlin: J. A. Stargardt, S. 117 bzw. 120 (Katalog-Nummer 1015).
- 3Vgl. Max Maria von Weber, Carl Maria von Weber. Ein Lebensbild, Bd. 1, Leipzig 1864, S. 532. Die Formulierungen legen nahe, dass Max Maria von Weber das Notizen-Buch, auch wenn er es nicht so benennt, gekannt haben oder wenigstens über seinen Inhalt informiert gewesen sein muss.
- 4Robert Haas, Ein Notizen-Buch Karl Maria von Webers aus Prag, in: Der Merker. Österreichische Zeitschrift für Musik und Theater, Jg. 7, Teil 1, Nr. 6 (15. März 1916), S. 201–212 (inhaltliche Zusammenfassung mit umfangreicheren Text-Wiedergaben).
- 5Auch Bužga vermutete, dass Weber das Buch, „frühere Unterlagen benutzend, offensichtlich erst kurz vor seinem Weggang aus Prag nieder[schrieb]“; vgl. Jaroslav Bužga, Carl Maria von Webers Prager „Notizen-Buch“ (1813–1816). Kommentar und Erstveröffentlichung des Originals, in: Oper heute. Ein Almanach der Musikbühne, Bd. 8, hg. von Horst Seeger und Mathias Rank, Berlin 1985, S. 20.
- 6Zdeněk Němec, Weberova Prazská léta. Z kroniky Prazské Opery, Praze 1944, S. 168–206, dort inklusive der bis Sommer 1818 eingetragenen Fortsetzung von fremder Hand.
- 7Jaroslav Bužga, Carl Maria von Webers Prager „Notizen-Buch“ (1813–1816). Kommentar und Erstveröffentlichung des Originals, in: Oper heute. Ein Almanach der Musikbühne, Bd. 8, hg. von Horst Seeger und Mathias Rank, Berlin 1985, S. 7–44. Übernommen wurden alle von Weber bis Oktober 1816 angelegten Teile inklusive der darin vorgenommenen späteren Nachträge und Korrekturen von fremder Hand und dem alphabetischen Register (ebenso von fremder Hand), nicht aber die Nachträge zu den nach Webers Abschied im Oktober 1816 bis zum Sommer 1818 einstudierten Opern, abgesehen von den Notizen zur Silvana-Erstaufführung.