Carl Maria von Weber an Friedrich Rochlitz (Fragment)
Prag, Freitag, 30. Juli 1813
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Recht lange ist es schon daß ich nicht mit Ihnen geplaudert habe, wenn auch gewiß täglich mein Geist bey Ihnen war, aber ich muß es nur bekennen daß ich geraume Zeit nicht in der Stimmung war meinen Gefühlen Worte zu geben. Ich war neben einer großen unabsehbaren Zahl von Geschäften auch in eine gewiße Stumpfheit und Trübsinn versunken, wo ich mir mein Gewißen daraus gemacht hätte Sie theuerster Freund damit anzustekken. Ich weiß wohl daß nur Mittheilung das Herz erleichert, aber es giebt auch Momente wo man selbst dieser nicht fähig ist. Physische Ursachen haben nebstdem freylich auch auf mich gewirkt.
Ihren lieben Brief vom 13t Aprill erhielt ich d: 26t in Wien. Wohin ich in Direktions GeschäftenT schon d: 27t März abgegangen war. diese Reise war mir in Jeder Hinsicht sehr angenehm. Wien behauptet doch den bedeutendsten Rang unter denen Musikliebenden und treibenden Städten. Seit‡ meinem lezten Aufenthalt da /: 1804 :/* konnte und muste sich manches geändert haben, und ich konnte auf jeden Fall […]‡ wichtige Erfahrungen zu meiner neuen Organisation sammeln. Ueberdieß zog mich die Anwesenheit Voglers, MeyerBeers, Bärmanns, pp auch sehr an, und nebenher wollte ich denn auch meine Wenigkeit den H: Wienern bekannt zu machen suchen. Diese Zwekke habe ich meist alle zu meiner vollkommensten Zufriedenheit erreicht. ich sah und hörte viel und mit Nuzzen. ich lernte intereßante Menschen kennen, und schäzzen, und manchen gepriesenen Helden des Auslandes* nicht eben vortheilhaft in der Nähe beurtheilen. Mein Nahme war schon bekannter da als ich hoffen durfte, und durch mein Concert das ich d: 25t Aprill gabT, denke ich ihm eben keine Unehre gemacht‡ zu haben, obwohl ich schon manchmal beßer spielte, und namentlich einmal abends in einer großen Gesellschaft wo alle Klavierspieler Wiens versamelt waren*, von jener | glüklichen Stimmung beseelt, die vielleicht nur alle 10 Jahre einmal erscheint und dann aber den Künstler über sich selbst erhebt. Der Sinn für die Kunst ist noch immer in Wien derselbe, rege, warme, hellauflodernde Enthusiasmuß wie ehemals. aber unter den Priestern der Kunst fand ich eine große Schlaffheit. Sie sind alle da so eingebürgert so blos von ihrer nächsten Umgebung befangen, als wenn Sie auf einer Insel in der Kunstwelt lebten. Es ist freylich schwer in Wien, wo das Menschliche im Menschen so sehr in Anspruch genommen und bestochen wird, dem reinen Kunstfreund die Oberhand zu laßen, und ich habe mich da neuerdings überzeugt, und noch fester meinen Grundsazz gestellt, daß der Künstler nie sehr lange an einem Orte leben dürfe. Schütteln Sie nicht den Kopf; ich weiß alles was Sie dagegen sagen können, ich fühle es mit Ihnen, aber ich kann mich von der traurigen Ueberzeugung nicht los machen, daß der Künstler will er ganz und rein der Kunst leben, sein Glük als Mensch daran sezzen muß. doch stille davon ich verliehre mich sonst in mich und will Ihnen doch nur von Wien erzählen. Von neuen KunstProdukten ist Salem von Mosel* das einzig intereßante. die Intention darinn ist durchaus trefflich, nicht ganz so die Conception. Es ist viel Verstand aber wenig Genius und deßhalb läßt es immer etwas kalt. David ist ein rechtes Modegetöne, wo die Leute immer mit Felsstükken im Munde sprechen, wo die Erde zittert vor Instrumenten Sturm, wenn der König nießt oder sich sezzen will. Mit einem Worte H: Liverati scheint ein gebohrener Posaunist, und in seiner Jugend Stiefelpuzzer bey Spontini gewesen zu seyn.* und‡ M‡an kann von ihm dabey mit unserm Schiller sagen,
Er hat wie alle Nachahmer das Schlechte Spontinis ohne sein Genie zu haben. –
den 4t May wurde ich schnell zurükberufen, weil | man glaubte daß die Anwesenheit der hohen Häupter in Prag manches Musikalische Arrangement erfordern würde. d: 6t kam ich an, und d: 12t warf mich ein heftiges‡ Gallicht Reuhmatisches Fieber aufs Krankenlager. tägliche Phantasien von 6, 7-8 Stunden griffen mich sehr an, und erst gegen das Ende Juny, erhohlte ich mich etwas. Meine Geschäfte litten darunter sehr, und um diese als ehrlicher Mann zu besorgen, muste ich einer Badekur entsagen die der Arzt zu meiner vollendeten Herstellung für nöthig hielt. ich habe mich Gott sey Dank auch ohne die ganz wieder erholt, und nur ein immerwährendes doch meist leises Kopfweh errinnert mich noch zuweilen an das Vergangene.
An den ersten Tagen meiner Genesung habe ich eine Ge-[…]‡‡
aber für einen vertrauten Umgang gar nicht geeignet. ich habe darauf auch verzichtet – so sehr es mir auch Bedürfniß ist. ich werde arbeiten und alle Jahre meinen Urlaub benuzzen mich zu erholen.
Die Recension des KlavierAusz: v: Silvana habe ich gelesen* und bin sehr damit zufrieden, denn ich habe es gerne wenn eine Rec: fest und bedächtig auftritt. die Quinten habe ich nicht finden können. den Aufsaz in No. 13 habe ich noch nicht gelesen. ich bekomme die Zeitung leider nur immer zufällig.* die Auffodderung an Dichter hat ein paar elende Produkte zu mir gebracht. H: Direktor Gerle scheint auch nicht dazu gemacht zu seyn. aber ein anderer junger hier, aus Wien, Joseph Passy arbeitet an einem Opern TextT für mich von dem ich mir et-[…]‡‡
Apparat
Zusammenfassung
berichtet über Wienreise, dortige Kunstverhältnisse, neue Stücke (Salem, David); über Selbstverständnis des Künstlers; über seine Krankheit; über Aufsätze in der AmZ (u.a. Silvana-Rezension) und Operntexte
Incipit
„Recht lange ist es schon daß ich nicht mit Ihnen“
Verantwortlichkeiten
- Übertragung
- Eveline Bartlitz; Joachim Veit
Überlieferung
-
Textzeuge: London (GB), The British Library (GB-Lbl)
Signatur: Add. MS. 47843, f.43 u. 44Quellenbeschreibung
- 1 DBl. (4 b. S. o. Adr.)
- Fragment: Bl. 2 halb abgeschnitten (untere Hälfte) mit erheblichem Textverlust
- ohne Ort und Datum (datiert nach der Abschrift Weberiana Cl. II B g, Nr. 5 und Webers TB)
Provenienz
- 1872/74 im Besitz von Charles John Hargitt, der F. W. Jähns eine Fotografie für seine Weberiana-Sammlung (Cl. VIII, Heft 3) überließ
Themenkommentare
Textkonstitution
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„Seit“„seit“ überschrieben mit „Seit“
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„[…]“gelöschter Text nicht lesbar
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„gemacht“„zu machen“ überschrieben mit „gemacht“
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„und“durchgestrichen
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„M“„m“ überschrieben mit „M“
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„heftiges“„heftiches“ überschrieben mit „heftiges“
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unleserliche Stelle
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„… Genesung habe ich eine Ge-“Rest der Seite abgeschnitten
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unleserliche Stelle
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„… von dem ich mir et-“Textverlust, Rest der Seite fehlt
Einzelstellenerläuterung
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„… Aufenthalt da /: 1804 :/“Weber hatte nach seinem Unterricht bei Vogler Wien Ende Mai 1804 verlassen; am 28. Mai, dem „letzten Tage [seines] Hierseyns“, trug sich dort Josef Augustin Susan in sein Stammbuch ein.
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„Helden des Auslandes“Vgl. Brief Webers an Johann Gänsbacher vom 16. April 1813.
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„… alle Klavierspieler Wiens versamelt waren“Vgl. den Tagebucheintrag vom 27. April 1813.
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„H: Liverati scheint … gewesen zu seyn.“Vgl. dazu das fast gleichlautende Urteil im Brief Webers an Johann Gänsbacher vom 16. April 1813.
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„… hat er ihm trefflich abgekukt.“Wallensteins Lager, 6. Auftritt, 1. Jäger: „wie er räuspert und wie er spuckt | Das habt ihr ihm glücklich abgeguckt“.
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„… v: Silvana habe ich gelesen“AmZ, Jg. 15, Nr. 14 (7. April 1813), Sp. 239–242.
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„… Zeitung leider nur immer zufällig.“In der AmZ, Jg. 15, Nr. 13 vom 31. März 1813 steht auf den Sp. 226f. eine Kritik über Webers Konzert vom 6. März in Prag.