Theaterbericht aus Hamburg vom Mai 1822 (inkl. Freischütz) mit Wiedergabe eines Schreibens von Giuseppe Carpani aus Wien über Webers Freischütz und deutsche Musik im Allgemeinen

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Nach dem Grundsatz, daß diese Blätter nicht bloß der Befriedigung einer flüchtigen Neugierde, sondern nach Maßgabe der vorkommenden Gegenstände zu einer mehr oder minder belehrenden Unterhaltung dienen sollen, und zwar von solcher Art, die nicht bloß an den jetzigen Augenblick geknüpft ist, haben wir auch kein Bedenken getragen, den Inhalt derselben so einzurichten, daß die Bühnenvorstellungen ihm weit voraneilen konnten; und das um so weniger, da wir glauben dürfen, zur Nachholung dessen, was uns schon vorausgegangen, in diesem neuen Monat eben so viel Raum als Muße zu finden. Was also insbesondere die noch nicht angezeigten Gastvorstellungen des Herrn und der Madame Stich betrifft, so wird von diesen in den nächstkommenden Blättern noch Einiges nachgetragen werden; für jetzt aber bleiben wir in der eingeführten Ordnung und werfen einen Rückblick auf die sämmtlichen Leistungen, welche im verflossenen Monat auf unserer Bühne [an] uns vorübergegangen sind.

Wir wollen mit der schwächsten Partie, mit der Oper, beginnen: sie ist nun einmal eine Art von Stiefkind un|serer Theaterverwaltung und wird es unter den bestehenden Umständen – wohl noch lange bleiben müssen, wie sehr auch die Neigung des Publikums gerade zu diesem Theil der scenischen Unterhaltung sich hinneigt. Am nachtheiligsten hat diesmal die Kränklichkeit der einen Sängerin eingewirkt, so daß nur Wiederholungen sonst schon oft gesehener Opern gegeben oder einzelne Rollen nur unvollkommen besetzt werden konnten. Dies letztere ist namentlich der Fall gewesen in Hinsicht der Oper des Tages: der Freyschütz; denn vor der Aufführung desselben am 12ten May ließ die Direction bekannt machen: „Um die vielseitig gewünschte Wiederholung dieser Oper nicht länger auszusetzen, wird Dem. Frühwirth die Rolle der Aennchen, bis zur Wiederherstellung der Dem. Pohlmann spielen.“ Bey dieser Besetzung ist es geblieben am 17ten und 23sten, und erst am 26sten trat Dem Pohlmann, obschon auch da noch an Heiserkeit leidend, in dieser Rolle wieder auf. Der jungen, bescheidenen Dem. Frühwirth gebührt das Lob, die redliche Anstrengung, den besten Willen bewiesen [zu] haben; sie sang die Partie, so weit ihre noch schwache Stimme reichen kann, mit Nettigkeit und großentheils richtig und zeigte auch in Hinsicht des Spiels, wenn schon durch Ungewohntheit noch vielseitig gehemmt, doch wenigstens so viel, daß sie die Nothwendigkeit desselben fühle: auch wird sie gewiß darinnen Fortschritte machen. Daß aber eine solche Rolle ungleich mehr erfordere, mußte natürlich zugleich mit fühlbar werden, – gewiß nicht zum Vortheil des Ganzen.

Diese Gelegenheit wollen wir benutzen, da früherhin über den Freyschützen umständlich in diesen Blättern geredet worden ist, noch das Urtheil eines Italieners über diese Oper, und beyher über die deutsche Musik überhaupt mitzutheilen, aus einem Schreiben des Herrn Joseph Carpani zu Wien, an den Herausgeber der Biblioteca ¦ italiana gerichtet (No. LXXII. December 1821. S. 421 ff.), aus welchem ohnlängst die musikalische Zeitung (1822. Nr. 16. S. 260) einen ganz verstümmelten und sinnentstellenden Auszug geliefert hat. Carpani nämlich schreibt darin also:

"Wir haben hier eine romantischeste Oper (op. romanticissima) mit einer mehr als romantischen Musik eines gewissen Wöber (so die Schreibart des Briefes), welche jedesmal, wenn sie gegeben wird, das Theater anfüllt. Ich habe sie noch nicht hören können; aber ich weiß, daß es in derselben Edelsteine giebt, die in Thon und in wissenschaftliche Kohlen der Contrapunctisten eingefaßt sind, nebst einigen schönen Chören: indem es niemals die Wissenschaft ist, die den Deutschen fehlt, im Gegentheil, sie haben daran einen Ueberfluß, aber in der Ordnung den Geschmack und die Melodie. Ihre Musik heutiges Tages gleicht der Glorie der Engel einiger Maler. Man sieht darauf Tausende von Seraphim, aber so, daß man von ihnen nie mehr als den Kopf gewahr wird, und auch diesen wieder halb von anderen Köpfchen bedeckt, die selbst halbversteckt ihn umgeben: so daß man unter so vielen Gesichtern niemals ein Ganzes sieht und eine ganze Engelsfigur vergeblich darauf suchet. So ist diese neuere Deutsche Manier, zu componiren, ganz voll von Motiven, die sich einander nähern, aber sich nicht mit einander verbinden (non legano), die sich ankündigen, aber nicht entwickeln und durch nichts sich einander anziehen &c. Dagegen gleicht die Musik der großen Italiener, wie auch der tüchtigen (valenti) Deutschen von ehedem den Glorien eines Correggio, Tizian, Domenichino, Guido, Cignani &c. fast durchaus zusammengesetzt aus reizenden, leichtschwebenden und abgesonderten Engelchen, welche nicht bloß mit ihren göttlichen Gesichtern, sondern auch mit zierlichen Armen und Händen und Beinen auf das schönste | gezeichnet durch ihre ganze Klarheit und Vollendung hinreißen und den, der sie betrachtet, festhalten, indem sie ihm nichts zu wünschen übrig lassen. Nur im Grunde des Gemäldes sieht man in der Ferne eine Schaar von Engeln noch angedeutet, welche den äußersten Horizont einnehmen, gleichsam Theile von kleinen Figuren, die sich allmählig im Felde verlieren, und die Wirkung hervorbringen von mannichfaltigen und zahlreichen Cadenzen, mit welchen erfahrene Tonsetzer, gerne dabey verweilend, ihre vornehmsten Stücke zu schließen pflegen. – Weber ist sogleich von unserm klugen Barbaja eingeladen worden, eine Oper zu schreiben, indem dieser Hauptmann aller Unternehmer nichts weiter im Sinne hat, als das Publikum zu befriedigen, und da Wien gerade eine solche Musik liebt, wird Barbaja ihm so viel davon geben, als es will, da es jetzt in Deutschland gar viele giebt, die dergleichen verfertigen an ihrem Fortepiano und während sie bis zum kleinsten herab jedes Wort auszumalen suchen. Diese Art von Musik bringt in mir gerade dieselbe Wirkung hervor, wie einer, der jedes Wort seines Gespräches mit einer demselben angemessenen Geberde begleitet. – Eine besonders auffallende und schwer zu erklärende Erscheinung ist die Leichtigkeit, mit welcher dieses Publikum, das so viel Kenntniß von der Musik besitzt, ich möchte sagen, jeden Tag seinen Geschmack ändert: heute Abend beklatscht es eine Oper von Rossini, morgen tausendfach die Müllerin von Paisiello, ganz Feuer und prachtvoll im Accompagnement die erstere, ganz Melodie und Einfachheit die zweyte, und den dritten Tag zeigt es sich wiederum ganz zufrieden mit einem Ferdinand Cortez, auf Französisch von Spontini geschrieben, oder mit dem Freyschützen eines Weber, beyde höchst kärglich mit Melodie versehen, hauptsächlich dieser letztere. Um etwas bestimmter noch darüber zu reden, will ich Ihnen sagen, daß aus seiner Partitur ¦ mir hervorgeht, daß außer einigen Chören und einigen Märschen man vergeblich nach Gesang sucht und nach getragenem Gesang, in allen Stücken, woraus sie besteht. Sie gewahren darin eine sclavische Nachahmung der Bedeutung eines jeden Wörtchens, was ein in sich nicht geschlossenes Mosaik hervorbringt von verschiedenfarbigen Gängen, die sich durchaus in kein Ganzes vereinigen; aber zugleich auch große Tiefe der Kenntniß in Hinsicht der Accorde und der Uebergänge, und Ausschweifungen und teuflische Sprünge von einer Idee zur andern im Ueberfluß. Im Vorbeygehen gesagt ist auch der Gegenstand des Drama[s] so teuflisch, daß der Teufel in Person erscheint, nur unter falschen Kleidern, er spricht und singt, und hat in Berlin vor den dasigen Christen den reichsten Beyfall eingeerntet, ohne daß man Apostasie oder Verführung zur Sünde gefürchtet hätte. In Wien jedoch ist diese höllische Person unterdrückt worden, die schon in dem Stücke des Doctors Faust von Göthe (vermuthlich von Klingemann) im verflossenen Jahre vielen mißfallen hatte, wie sehr sie auch den meisten gefiel. Um jedoch auf diesen Widerspruch im musikalischen Geschmack der Deutschen zurück zu kommen, so wüßte ich ihn nicht anders zu erklären, als fürs erste daher, daß man hier die Musik bis zur Uebertreibung liebt, weshalb die, die nicht gefällt, sehr unangenehm, sehr schlecht ausgeführt oder schwach seyn muß. Sodann, weil ein National-Geschmack oder vielmehr ein ausschließlicher Geschmack hier nicht eigentlich vorhanden ist. Die Franzosen und die Italiener haben jede einen besonderen, wie sehr auch von einander verschieden, aber die Deutschen haben alle Arten des Geschmacks und keine kann die ihrige genannt werden! „Wenn’s nur Musik ist, ist’s schon genug!“ Da endlich insbesondere die Wiener und Berliner außerordentlich erfahren in der Theorie sind, so lieben sie auch gerade jene Compositionen, | in welchen sich nur recht viel Gelehrsamkeit auszeichnet und bringen sodann das hoffärtige Wohlgefallen des Verstandes an die Stelle desjenigen des Ohres und des Herzens, das diese ohne eine schöne und gut ausgeführte Melodie niemals empfinden können &c. – Wir werden nächstens eine deutsche Oper von Spohr bekommen*. Da dieser gelehrte Componist manches Jahr in Italien gelebt hat, müßte er wohl den Sinn für Melodie sich erworben haben, und vereinigt er diesen Vorzug der Italienischen Musik mit dem Deutschen Wissen, so darf man hoffen, daß wir trotz der nicht singbaren Deutschen Worte (!) eine schöne Oper bekommen werden*. (*) – Ich hüpfe vor Freuden bey dem Gedanken, daß wir in Kurzem hier in dieser großen Hauptstadt eine stehende Italienische Oper bekommen werden, und verspreche mir davon die größten Vortheile für die Kunst. Die musikalischen Köpfe sammeln sich hier, und die Beschäftigung mit Musik ist eine der beliebtesten Vergnügungen der Wiener Jugend, die größtentheils mit ganz vortrefflichen Anlagen und einer sehr günstigen Empfänglichkeit ausgestattet ist, um in den schönen Künsten gute Fortschritte zu machen. Aber der Gesang drohete sich gänzlich zu verlieren durch die Unbehülflichkeit (indocilità) und Rauhheit der inländischen Sprache, und durch den Vorrang, welchen die Instrumentalmusik sich über die Vocalmusik angemaßt hatte. Rossini und Mercadante, David, die Colbrand und die Belloch und andere Italienische Schwäne werden dadurch, daß sie die Deutschen auf den guten und einzigen Weg der Musik zurück verweisen, die schönen Tage der Hasse, Täuber, Raff, der Mara* &c. wieder zurück führen, und es wird nicht lange mehr dauern, so wie es vor nicht länger als 50 Jahren war, daß es nur Ein ¦ Schönes giebt, nur Eine Schule, nur Eine Musik, und zwar die der Leo, Durante, Vinci, Picini, der Paisiello, Cimarosa, der Gaßmann, Graun, Bach, Naumann und Mozart und so viele andere der geschicktesten Deutschen (valentissimi), welche, unterstützt durch ihr heimisches Talent und aufgeregt durch das Beyspiel der Italiener an die Ufer der Donau, der Elbe und der Spree die bezaubernden Melodien verpflanzt haben, welche an denen des Sebet und der Tiber wiedertönen. Ohne das Erscheinen eines Rossini war diese göttliche Kunst nahe daran, in dem Ocean der alltäglichsten und ewig wiederholten Liederchen zu Grunde zu gehen oder in der dürren Wüsteney der harmonischen Verwirrungen sich zu verlieren. Gerade, daß diesen Harmonien gewöhnlich ein gut gewählter, klarer und eben so verständig, als fein und natürlich ausgeführter und entwickelter Gedanke fehlte, brachte hervor, daß eine musikalische Composition, anstatt ein angenehmes Gedicht für Ohr und Herz zu werden, sich in ein kaltes Tongewebe verwandelte, in ein bezeichnungsloses Gelärme, in ein algebraisches Exempel, gar schön zu lesen, langweilend anzuhören. Dem ist so, m. v. Fr., Rossini und Mercadante werden dadurch, daß sie die gute Musikgattung (il buon genere) zurückrufen und sie mit neuen Reichthümern vermehren, die Europäische Musik retten,(*) und wenn der erstere seine bewundernswürdigen Werke noch etwas mehr feilt, indem er mit dem Zügel der anerkannten (rispettata) Wahrheit den Ungestüm seines schöpferischen Geistes zu beherrschen sucht, und wenn der andere fortfahren will, uns so verständig gesetzte und geglättete Opern zu geben, wie die, von welcher so eben ganz Mailand berauscht ist, so wird die Italienische Musik aufs Neue zur Vollkommenheit em|porsteigen, in welchem Lande Europa’s sie auch componirt werden möge." &c.

So weit geht der wesentliche Inhalt dieses Briefes, in welchem wie verschieden auch die Nationalität des Geschmacks sich aussprechen möge, geistreiche und allgemein zutreffende Gedanken nicht mit leichtsinniger Verachtung oder überkluger Geringschätzung übersehen werden sollten. Wir kehren indessen von dieser Einschaltung auf die Uebesicht unserer Oper zurück, und finden da, außer dem genannten Freyschützen, nur noch zwey Opern von einiger Bedeutung anzuzeigen, Salieri’s Tarar, am 5ten gegeben, und am 10ten Belmonte und Constanze von Mozart. Bey dieser letzteren Aufführung begegneten sich zwey sehr erfreuliche Erscheinungen: der ungemein fleißige und kunstvolle Gesang unsers Herrn Klengel, wie große Anstrengung ihm auch der Vortrag dieser schweren Gesangspartie zu verursachen schien, und eine sinnige, das wahre Verdienst erkennend ehrende Dankbarkeit von Seiten des Publikums. Gewiß begleiten Herrn Klengel, der jetzt eine Kunstreise angetreten hat, die zahlreichsten Wünsche für seine Gesundheit und für eine heitere Rückkehr. – Zur Ausfüllung eines wenig theatralischen Abends hat das artige Singspiel von Weigl: „Nachtigall und Rabe“ dienen müssen, – am 14ten dieses, – wovon früher gesprochen worden. Außerdem sind nur noch – am 9ten „der Dorfbarbier“ mit Schwenke’s immer noch angenehmer Musik, und am 30sten das Vaudeville „der Schiffscapitain“ gegeben worden. Ersteres Singspiel hat sich durch die komische Laune, mit welcher Herr Gloy den Adam giebt, aufs Neue bey unserm Publikum in Gunst gesetzt, und es verdient gerühmt zu werden, daß der wackere Komiker auch die Wünsche derer, die früher hie und da die Farben etwas zu stark aufgetragen fanden, nicht unbeachtet gelassen hat. Seine Laune ist immer frisch und neu und lieferte diesmal z. B. eine gut angebrachte Parodie des „Sammiel hilf!“ aus dem Freyschützen. Solche Parodieen, so schicklich eingemischt, zugleich mit dem Reiz der Neuheit versehen, können ihres Zweckes nie verfehlen und sind ein gerechtes Privilegium der Komiker, das sie nur häufiger benutzen sollten. Im Schiffscapitän sang Mad. Mädel seit ihrer Genesung wieder zum erstenmale die Julie. (Der Beschluß folgt.)

[Originale Fußnoten]

  • (*) Bekanntlich hat Spohr’s gelehrte Oper in Wien keinen Beyfall gefunden. D. H.
  • (*) Ausdrücklich: salveranno, sie werden retten, – nicht "salvarono, sie haben gerettet" – wie fälschlich in der Musikal. Zeit. abgedruckt ist. D. H.

Apparat

Zusammenfassung

Bericht über die Mai-Aufführungen in Hamburg, dabei Brief von Joseph Carpani in Wien über Webers „Freischütz“ und deutsche Musik im Allgemeinen

Entstehung

Verantwortlichkeiten

Übertragung
Fukerider, Andreas

Überlieferung

  • Textzeuge: Dramaturgische Blätter für Hamburg, Jg. 2, Nr. 45 (Juni 1822), S. 361–368

Textkonstitution

  • „Picini“sic!

Einzelstellenerläuterung

  • „… deutsche Oper von Spohr bekommen“Spohrs Zemire und Azor hatte am 15. Dezember am Kärtnertortheater in Wien Premiere.
  • „… eine schöne Oper bekommen werden“Die italienische Stagione an der Wiener Hofoper dauerte 1822 vom 13. April bis 24. Juli.
  • „… , Raff , der Mara“Faustina Bordoni (1697–1781, verh. Hasse), Elisabeth Teyber (1744–1785), Anton Raaff (1714–1797), Elisabeth Mara, geb. Schmeling (1749–1833).
  • Schwenke’srecte „Schenks“.

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